Rezension

„Ich hatte jemanden“

Memory Wall - Anthony Doerr

Memory Wall
von Anthony Doerr

Bewertet mit 5 Sternen

~~In Memory Wall kommt ein Gerät zum Einsatz, mit dem demente Menschen ihre Erinnerungen quasi „abzapfen“ und auf Kassetten speichern können, sie oder andere können diese dann abspielen. Die wohlhabende Witwe Alma ist dement. Mit der Therapie bei Dr. Amnesty (!) versucht man, beschädigte Neuronen zu lehren, tauglichen Ersatz zu schaffen. „Sie erinnert sich, wie sie sich erinnern soll.“ S. 17 Ihr werden vier Löcher in den rasierten Schädel gebohrt, dort werden bei der Therapie die vier Schrauben eingeführt in die gesetzten Ports. Bei der Behandlung sieht sie Erinnerungsfetzen wie Filmausschnitte, die eigentliche Erinnerung wird auf Kassetten gespeichert. Einige Patienten nutzen wieder und wieder die Kassetten mit den schönen Erinnerungen, an die Hochzeit zum Beispiel. Alma nutzt außerdem die titelgebende „Memory Wall“ in ihrem Hause, gespickt mit den genannten Kassetten, Fotos, Notizen – Erinnerungsstücken.

Alma und ihr verstorbener Mann Harold waren Immobilienmakler, aber als Rentner hatte Harolds Leidenschaft für Fossilien zunehmend Raum eingenommen. Kurz vor seinem Tod hatte er noch einen bedeutenden Fund gemacht und war gestorben, bevor er diesen der Öffentlichkeit mitteilen konnte – so ein vollständiges großes Skelett ist für einen Sammler viel wert, gerne 40, 50 Millionen Rand. „Die Wissenschaft…will immer den Kontext. Aber was ist mit der Schönheit? Was ist mit der Liebe?“ S. 64, so der Hehler für Fossilien.

Jede Nacht bricht Roger Tshoni ein in das Haus Almas; er hat einen Jungen dabei, der quasi als „Abspielgerät“ fungieren soll - so will man Almas Erinnerungen den Fundort entlocken. Alma bemerkt jeden Einbruch, was ihr ihrem Zustand jedoch nichts nützt. „Manchmal droht sie damit, die Polizei zu rufen. Manchmal nennt sie ihn Harold [der Name ihres verstorbenen Mannes], manchmal Schlimmeres: Laufbursche. Kaffer. Schwarzer. Wie in An die Arbeit, Bursche.“ S. 34  Die Handlung des Buches spielt sich ab in Kapstadt, aber in Almas Erinnerungen ist noch das Südafrika der Apartheid.

Welche Realität zählt? Was macht einen Menschen aus? Was bleibt von uns, wenn wir gehen? Autor Anthony Doerr verwebt geschickt die Parallelität von Alma in Folge der zunehmenden Demenz und einem Fossilienfund, schon an sich Symbol für etwas, das war, und der hier auch noch verloren scheint, verloren in den Tiefen von wiederum Almas Erinnerungen, die in einem klaren Moment sagt: „Zu sagen, jemand sei ein glücklicher Mensch oder eine unglücklicher Mensch, ist lächerlich. Wir sind in jeder Stunde tausend verschiedene Menschen.“ S. 72 Dazu kommen noch die wunderbaren weiteren Charaktere wie der Hausdiener Pheko oder das „menschliche Abspielgerät“ Luvo, beide vor die Frage gestellt, wie sie sich angesichts existentieller Bedrohung verhalten. Ein kurzes Buch mit einem langen wundervollen Nachklang.

Auf einer ähnlichen Idee, nicht für Demente, damals sah man das noch nicht als so großes Problem, fußt der Film „Projekt Brainstorm“ mit Natalie Wood (ihr letzter Film, sie ertank während der Dreharbeiten). Hier benötigte man keine implantierten Ports im Kopf, es genügte ein simpler Helm. Im Film wollen Militärs das Gerät missbrauchen. Ich empfehle den wirklich grandiosen Film als Folgewerk nach diesem Buch.