Rezension

Karikaturesk

Lil -

Lil
von Markus Gasser

Bewertet mit 3 Sternen

„Lil“, der neue Roman von Markus Gasser, hat ein Anliegen. Er ist nicht, wie man vermuten könnte, das Porträt einer außergewöhnlichen Frau, sondern in erster Linie eine Abrechnung mit den misogynen Auswüchsen der Psychiatrie, wie sie im Handbuch der Diagnosen vor über 100 Jahren formuliert worden und offenbar noch bis heute im DSM zu lesen sind. Psychologen, Psychiater, Schulmediziner – niemand aus der Zunft der Heiler kommt gut weg in diesem Roman.

Erzählerin der Geschichte Lils ist ihre Ur-Ur-Ur-Ur-Enkelin Sarah, von der bald klar wird, dass sie eine persönliche Rechnung mit dem patriarchalen Gesundheitssystem offen hat. Lils Geschichte einer erfolgreichen Rache an ebendiesem System zu erzählen, ist für Sarah ein Akt der Selbstermächtigung. Der Roman verbindet somit geschickt Historie mit Gegenwart. Die Art, wie sie erzählt wird, konnte mich allerdings nicht begeistern.

Der Roman stellt quasi die Mitschrift der Unterhaltungen zwischen Sarah und ihrer Dobermannhündin Miss Brontë  dar.  Die Hündin hört nicht einfach stumm zu, sie fragt, sie antwortet und hat oft eine abweichende Meinung – der Roman steht hier in der Tradition vieler Geschichten um sprechende Tiere. Ein bisschen zu viel wurde es mir, wenn auch Rosen ihr Beschnittenwerden beklagten – wenn auch vielleicht nachvollziehbar, denn für die moribunde Sarah ist die ganze Welt beseelt. Sarahs Erzählton ist ironisch bis sarkastisch und hält eine schräge Balance zwischen Aneignung und Distanz; oft auch flapsig, was für mich mit den ernsten Themen einen Misston ergab. So manches Adjektiv empfand ich als schief oder gewaltsam originell, etwa wenn von „aufgebrachtem Verkehr“ oder „vergrämtem Stuck“ die Rede ist. Insgesamt waren mir Ton und Humor zu grell, was sich aus meiner Sicht auch ungünstig auf die Glaubwürdigkeit der geschilderten Übergriffe auswirkt.

Denn was Gasser seine weiblichen Figuren erleiden lässt, ist so monströs, dass es an sich schon schwer zu glauben ist.  Manche Schilderungen sind in ihrer Drastik schwer auszuhalten. Vor allem Leser:innen, die neu im Thema sind, macht es der expressive Stil womöglich zusätzlich schwer, den Realismus hinter den schrillen Szenen zu erkennen.

Gassers Figuren wirken bis ins Schablonenhafte übersteigert; sie sind Platzhalter für bestimmte Typen. Vor allem die männlichen Antagonisten sind nur böse, die  Frauen bis zur Lächerlichkeit angepasst. Lils Psychiater Fairwell mit seiner jovialen Misogynie ist ein Lex Luthor der Psychiatrie, nur nicht so genial. Lils Sohn Robert bleibt ähnlich flach: Den ganzen Roman hindurch habe ich mich gefragt, wie er so missraten konnte, aber der Text liefert hierfür keine Erklärung. Auch von Lil hätte ich mir mehr Tiefe gewünscht, jenseits des Racheszenarios bleibt sie blass. Viele Szenen des Romans – auch die Gerichtsszene im Zentrum der Story – erinnerten mich an die Stilistik von Graphic Novels - viel Chiaroscuro, viel Drama, griffige Dialoge. Das hat hohen Unterhaltungswert, aber Grautöne sucht man vergebens.

Es gibt eine Fülle oft witziger Bezüge, sowohl literarisch wie auch historisch, die sich vor allem in der Namensgebung der Figuren ausdrücken. Das verleiht dem Roman zusätzliche Resonanz. Hut ab zudem vor dem Wissen und der Rechercheleistung des Autors. All die unfassbaren medizinischen Kunstfehler und Übergriffe des Romans wurden belegbar begangen und werden es teilweise noch. Ein Weckruf, der uns hier entgegenschallt, die Arbeit ist noch nicht getan. Auf der Ebene funktionierte der Text für mich am besten.

Selten bin ich mit einem Roman so ambivalent gewesen. Inhaltlich war er genau mein Ding, aber die allzu knallige und effektverliebte Umsetzung - stellenweise hatte es etwas von Slapstick – mochte ich gar nicht.  Bei der Medizinerschelte hätte ich mir ebenfalls mehr gegenwartsbezogene Differenziertheit gewünscht.  Aber wer saftige Rachegeschichten liebt, in denen die Bösen sämtlich ihr Fett wegkriegen und die Guten triumphieren, der/die wird diesen Roman vermutlich mögen.