Rezension

Vergnügliche Lektüre trotz ernsten Themas

Lil -

Lil
von Markus Gasser

Bewertet mit 5 Sternen

2017 stößt Sarah Cutting auf einen bis dahin verschollenen Brief ihrer Vorfahrin aus dem Jahr 1880. Dieser Brief ist ein Hilferuf der millionenschweren Eisenbahnmagnatin Lillian Cutting, genannt Lil, aus der geschlossenen psychiatrischen Klinik, in die sie nach dem Tod ihres geliebten Gatten Chev von ihrem Sohn Robert abgeschoben wurde. Ziel dieser Abschiebung ist die Entmündigung der äußerst klugen und geschäftlich enorm erfolgreichen Lil, denn Chev, wie seine Gattin steinreich, hatte den charakterlich verkommenen, verlogenen und intriganten Sohn Robert enterbt.

Der Aufenthalt Lils in der Hops Island genannten Luxusklinik ist ein einziges Martyrium. Der leitende Psychiater diagnostiziert bei Lil eine schwere psychische Störung, sie wird sediert, ihrer Freiheit beraubt und schweren, entwürdigenden Mißhandlungen ausgesetzt.

Soviel zur ernsten Thematik des Romans. Lils Geschichte wird anhand des wiedergefundenen Briefs durch Sarah aufgerollt. Und das auf sehr vergnügliche Weise, indem Sarah ihrer Dobermannhündin Miss Bronte davon berichtet und Miss Bronte dies teils humorvoll, teils sarkastisch kommentiert. Mir hat dieses Zwiegespräch zwischen Sarah und ihrer Hündin sehr gefallen. Welcher Tierfreund wünscht sich nicht, dass sein Gefährte, sei es Hund, Katze oder sonstiges Getier, ihm in menschlicher Sprache antwortet ? Zudem ist auch Sarah u. a. durch beruflichen Unbill psychisch angeschlagen und an einem Tumor erkrankt und erfährt durch die Gesellschaft ihrer Hündin seelische Linderung.

Deutlich wird, dass die zu Lils Zeiten männerdominierte Gesellschaft die Intelligenz und Furchtlosigkeit und den daraus resultierenden geschäftlichen Erfolg von Frauen als Bedrohung wahrgenommen hat. Der Autor entlarvt zudem am Beispiel der "erlauchten oberen vierhundert" der New Yorker Gesellschaft der Jahre 1880 ff. die Dekadenz, Exaltiertheit, Arroganz und Heuchelei dieser unvorstellbar reichen, im Luxus schwelgenden Clique. Diese Gesellschaftskritik hat deutliche Bezüge zur heutigen Zeit, unwillkürlich zieht der Leser Parallelen zur Welt der Reichen und Schönen, der Finanzspekulanten, des Hochadels unserer Tage.

Die Handlung des Romans entwickelt sich schließlich zu einem Rachefeldzug der befreiten, aufgrund eines gerechten Richterspruchs doch nicht entmündigten Lil. Lils Rache ist grausam. Sie richtet sich mit ganzer Härte gegen ihren eigenen Sohn Robert und seine willfährige Entourage und ich habe Genugtuung für das Lil angetane Unrecht empfunden. Geradezu märchenhaft mutet das endgültige Schicksal des missratenen Sohnes und des Peinigers Lils in der Gestalt des Leiters der psychiatrischen Klinik an, so grausam, wie eben auch Märchen sind.

Das alles wird in einer teils altertümlich gediegenen, teils sehr poetischen und teils humorvoll anmutenden Sprache erzählt. Sehr gefallen haben mir trotz aller damit assoziierten Dekadenz die Beschreibungen der erlesenen Speisen und Getränke. "Frikadelle vom Seehecht mit Petersilie, Kreuzkümmel und Koriander in blubbernder Tomatensauce" war noch eines der einfacheren Gerichte ! Genauso genossen habe ich Sätze wie den folgenden, der den Wendepunkt in Lils Geschichte nach dem Richterspruch und den Beginn ihres Rachefeldzugs markiert: "...und ein Bussard schnitt bei seinem letzten Flug den glücklich aufgehenden Vollmond jenes dritten Mai 1880 mitten entzwei."

Ich vergebe 5 Sterne für diesen sehr lesenswerten Roman.