Rezension

Der Emanzipation Widersacher...

Lil -

Lil
von Markus Gasser

Bewertet mit 5 Sternen

...lauern im eigenen Nest und haben starke Verbündete.

Lillian Cutting ist in New York der 1880er eine Ausnahmeerscheinung. Die kommenden Goldenen Zwanziger des nächsten Jahrhunderts vorwegnehmend, brilliert Lil mit Unternehmergeist und ist erfolgreiche Eisenbahnmagnatin. Die High Society akzeptiert leidlich ihre emanzipierte Position an der Seite ihres Mannes Chev. Doch als Chev verstirbt, wittert ihr Sohn Robert seine Chance zur Aufnahme in die Erlauchten Vierhundert der New Yorker Gesellschaft. Er will den Weg freimachen, an das vollständige Erbe seiner Eltern gelangen und Lil ruhigstellen. Die Gesellschaft sieht einer Wiederherstellung der alten, patriarchalischen Ordnung wohlwollend entgegen.
Mit einer List gelingt es Robert, seine Mutter in die Manhattener Klinik von Doktor Matthew Fairwell einzuliefern. Diese Anstalt widmet sich explizit den angegriffenen Nerven von Frauen. Frauen, die sich vom harten Luxusleben erholen wollen, aber auch Frauen, die sich ganz und gar nicht den Normen entsprechend benehmen, zu laut geworden sind, sich nicht mehr unterordnen wollen. Eine erfolgreiche Behandlung, davon ist die Koryphäe Fairwell überzeugt, kann nur durch Ruhigstellung mit Drogen, in schweren Fällen aber auch mit einer Hysterek-, oder Lobo-tomie erfolgen.
Nach einiger Zeit dämmert es Lil, dass sie ohne Hilfe dieses Sanatorium wohl nicht verlassen wird. Sie ahnt nicht, dass ihr Sohn Robert eng mit Fairwell zusammenarbeitet.
Doch nicht nur der Feind sitzt in den eigenen Reihen, sondern auch Freund. So hat die freundliche Gesinnung wohl eine Generation übersprungen und eine emanzipierte Frau gibt es auch beim Anwaltsehepaar Sandberg, die ähnlich aus der Reihe tanzen, wie einst Chev und Lil.

Eine spannende Befreiungsaktion beginnt, gefolgt von einem ausgeklügelten Rachefeldzug einer neu erstarkten Frau, die ihren Kampfgeist der übernächsten Generation vererbt. Dieser Geist lebt fortan in der Familie und reicht sich durch bis zur Ur-...Urenkelin Sarah, die diese Geschichte heuer niederschreibt, sich dadurch selbst den Mut zuschreibt, einer Fehldiagnose und einer vielleicht zu spät erfolgten Behandlung zu trotzen. Ihr zur Seite steht die Dobermann Hündin Miss Brontë, ihr spöttisch, mutig ins Wort fallend, aber auch die Geschichte selbst in eine fauna- und floraberedeten Dimension hebt und sie zu einer kraftspendenden, für Sarah überlebenswichtigen Katharsis verhilft.

Markus Gasser ist eine anspielungsreiche, die Literatur spiegelnde, schelmische Fiktion gelungen, die mit spitzer Feder knallharte Emanzipations- und Medizingeschichte im Realen skizziert. Lil bildet dabei das Schlüsselloch, durch das wir auf einen erlauchten, erdachten (oder doch tatsächlichen?) Kreis blicken können, aber sogleich die großen Dimensionen des Wahrhaftigen mit Erschauern erahnen lässt. Eine (noch) viktorianische Kulisse, die ihre Arme ausstreckt, in eine Zeit, in der die Haare kürzer, die Kleidung zwangloser wird, wie es das Buchcover aus dem C.H.Beck Verlag offenbart.

Wer mag, darf sich mit den ernsten Themen auseinandersetzen, nach Parallelen in Namen und Orten fahnden, sich über vergangene Entsetzlichkeiten aufregen. Aber man kann das Buch auch einfach nur genießen und sich an ausgeklügelte Formulierungen erfreuen, die einem "Spaß-"Leser, wie mir, aufjuchzen lassen, wenn ich im Seymour Floyd einen Sigmund Freud entdecke und Miss Brontë mit mir schon Bekanntschaft über Jane Eyer geschlossen hat.

Spannend, kurzweilig und sehr, sehr gehaltvoll in viele Richtungen. Bravo!