Rezension

Konfliktherd Familie

Sommer in Maine - J. Courtney Sullivan

Sommer in Maine
von J. Courtney Sullivan

Bewertet mit 4.5 Sternen

Familie, das ist Freud und Leid, kann Segen und Fluch sein. Nirgendwo ist man einander näher und von einander abhängiger. Manchmal möchte man einander zum Mond schießen und dann wieder heult man wie ein Schloßhund, wenn einer fehlt. Von einer nicht untypischen Familienkonstellation über drei, vier Generationen hinweg, erzählt „Sommer in Maine“.

Aus zahlreichen verschrobenen Facetten setzt sich die Struktur der Familie der 83jährigen Patriarchin Alice Kelleher zusammen, deren Mann Daniel vor zehn Jahren gestorben ist und der ihr Ruhe und Kraft gegeben hat, ihr Leben auszuhalten, besonders die Kinder und Kindeskinder. Denn Alice war zur Mutterschaft nicht bestimmt, eigentlich hat sie Malerin werden wollen und ein selbstbestimmtes Leben führen, irgendwo, vielleicht in Paris, auf jeden Fall ganz woanders. Jetzt hat sie sogar Urenkel.

Alles ist ganz anders gekommen .... selbst ihre Ehe war zuerst keine Liebesheirat, sondern eine Flucht. Alice hat sich zwar bemüht, aber dennoch ihren Frust oft an ihren Kindern Kathleen und Clare und Patrick ausgelassen. Und seit ihr Mann tot ist, trinkt sie auch wieder. Mit der Familienpatriarchin umzugehen ist nicht einfach. Kathleen hat sich emanzipiert. Clare hat sich distanziert. Pat hat sich „nur“ verheiratet, um Alice Knute zu entkommen. Die Schwiegertochter Ann Marie kümmert sich um alles und jedes und erntet dafür wenig Dank und Lob, geschweige denn Anerkennung oder Liebe. Maggie, eine der Enkelinnen, versucht Nähe zur Grossmutter herzustellen, und wundert sich, warum sie dabei so oft scheitert. Denn Alice hat Vergangenheit und in diesen Bereich ihres Lebens lässt sie keinen so leicht blicken. Selbst ihrem Mann hat sie nicht alles erzählt.

Was alle Generationen gemeinsam haben von Alice bis zu den Urenkeln ist der alljährliche Sommerurlaub in Maine, im eigenen Sommerhaus auf einem Seegrundstück.

Die Autorin J. Courtney Sullivan lässt den Leser Anteil an einer wirbeligen amerikanischen Großfamilie nehmen, in der jeder eine andere Macke hat und weidlich pflegt. Eine weit verbreitete Abart des Katholizismus, der Alkoholismus und die irischen Wurzeln sind wiederkehrende Themen und Dominanz und Manipulation bedingen sich gegenseitig. Dennoch ist Familie eben Famile und Blut dicker als Wasser.

In fast unmerklich angelegten zahlreichen Rückblenden dröstelt die Autorin auf, wie Alice zu der wurde, die sie ist. Und wie sie durch ihre Eigenheiten, Abhängigkeiten, ihrem falsch verstandenen Glauben und persönlicher Schuld und Tragik ihre Kinder prägte und verkorkste, so dass diese wiederum wurden, wie sie sind und einen Rucksack voll Problemen wiederum auch an ihre Kinder weiterreichten. Eine schier endlose Kette von unausgesprochenen Konflikten entfaltet sich, ans Licht kommt über Generationen hinweg das Wenigste.

Dabei bewundere ich die kunstfertige Art, wie Sullivan viele ihrer Rückblenden auslöst, zum Beispiel als Alice in der Nacht wach liegt, weil es ihre Enkelin am Abendbrottisch gewagt hat, ihr einige höchst persönliche und private Fragen zu stellen.

Es ist ziemlich typisch  für eine amerikanische Familie, dass es hinter der Fassade brodelt, während man nach aussen hin auf „nice, nice!“ macht. Aber es ist nicht nur in den Staaten so ...

Im letzten Sommer in Maine platzen einige der Konfliktherde jedoch endlich einmal auf. Aber nur der Leser erfährt alles und weiss deshalb auch beruhigt, es gibt für alles einen Grund. Die Protagonisten jedoch müssen sich mit Stückwerk und vollkommener Akzeptanz von einander zufrieden geben, so wie im wirklichen Leben. Zur völligen Wahrheit und Wahrhaftigkeit durchzudringen erweist sich eben oft als unmöglich.

Fazit: Treffende Studie einer Großfamile. Lebensecht. Angenehmer, ruhiger Stil.

Kategorie: gehobene Unterhaltung
Berlinverlag Taschenbuch, 3. Aufl. 2014
(Es gab kein Bild vom Taschenbuch).