Rezension

Patchwork im Winter.

Der letzte Sessellift -

Der letzte Sessellift
von John Irving

Bewertet mit 4 Sternen

Irving wird keiner meiner Lieblingsautoren - aber er kann was.

Was Liebe angeht, können sich viele Familien von der erweiterten Patchworkfamilie der Brewsters etwas abschauen. Liebe gibt es reichlich unter ihnen.  

Die Familie, über die Adam als Icherzähler berichtet, zunächst als Kind, später als Heranwachsender und Beobachter, noch später an seinem Lebensabend, besteht und bestand aus Menschen, die ihre Sexualität ausserhalb der Norm leben, was in den frühen 1950er Jahren durchaus ein gesellschaftliches Problem darstellt. Es ist eine Familie, deren exzentrischer Lebensstil nichts ausspart. Es wird nie ganz klar, ob und wie das eine das andere bedingt; denn muss eine, gemessen an den Mehrheitsverhältnissen ungewöhnliche sexuelle Veranlagung, wirklich zu Exzentrizität führen? Weil und wenn man sie verbergen muss, dann vielleicht schon. 

Je nach Charakter und Veranlagung der Einzelnen werden die entsprechenden Neigungen mehr oder weniger offen gelebt und führen zu allerhand Kuriositäten: Adams Cousine tritt regelmässig im New Yorker Kabarett des Gallows auf, einem Szenecafé, mit der innovativen und provokanten Nummer „Zwei Lesben, eine spricht“, Adams Mutter führt eine Ehe zu dritt, wer die Vaterschaft von Adam zu vertreten hat, bleibt lange ungeklärt, einige Familienmitglieder können nur hilflos lachen, andere verstummen teilweise oder ganz, alle sind irgendwie politisch, ein anderer geht in Opposition zu den Exzentrikern, wird Republikaner und Waffenfanatiker.
Obwohl die Einzelnen ganz offen mit ihren Neigungen umgehen, tun sie es nicht so, dass sie Adam irgendetwas erkären würden, er muss nach und nach durch Beobachtungen  selber hinter die Dinge kommen, die bei ihm zu Hause nun einmal anders ablaufen als anderswo, mit ihm die Leserschaft. 

Der Kommentar: 
John Irvings Roman ist eines: lang und ausschweifend, detailverliebt. Das mag dem einen gefallen und dem anderen nicht; für den einen sollte der Roman nie zu Ende gehen und der andere ist froh, wenn er Irvings Figuren endlich hinter sich lassen kann: Mit anderen Worten, Irving ist einfach Geschmacksache.
Neben seiner liebevollen Zeichnung der LGBTQA+ Brewsterfamilie und ihrer Bezugspersonen, sind weitere Themen des Romans: Kritik am Vietnamkrieg, die Verarbeitung von Tod und Sterben, der Film noir und die Aidspolitik der USA in den 80ern. Zur Verarbeitung des Themenbereichs Tod werden Gespenster in die Lobby eines berühmten Wintersporthotels gesetzt: dort spielen sich wahrhaft tragische und zugleich makabre Szenen ab.
Wenn Adam, der im Roman alsbald Schriftsteller wird, versucht, schreibend seine Familiengeschichte aufzuarbeiten, kommen seine unveröffentlichten Drehbücher zum Zuge und man ist als Leser gezwungen, mindestens drei, fast eigenständige (Dreh)Bücher im Buch mit zu konsumieren. Natürlich haben diese Drehbücher eine Funktion im Roman, trotzdem mag mancher dieses Stilmittel gar nicht, andere sehen sie als hohe Kunst an.
Irvings bekannte Liebe zu Sport im allgemeinen und zum Wintersport im besonderen und zum Film noir kommen im Roman ausgiebig zum Zuge. 

Das Leseerlebnis:
Das Leseerlebnis hat mich von dem Roman nicht ganz überzeugen können. Die vielen Drehbücher lesen zu müssen, befand ich als mühsam, die vielen Handlungsanweisungen darin als überaus langweilig. Ich mag eh keine Theaterstücke lesen. Theater schauen ja, aber Stücke lesen, nein.
Die Intention des Autors, die Gesellschaft vorzuführen und zu mehr Toleranz aufzufordern, beziehungsweise den Mangel an Respekt und Toleranz anzuklagen, ist ein berechtigtes Anliegen, zumal dieser Mangel an Respekt bis zu Morddrohungen und Schlimmerem führt. Andererseits macht die Brewsterfamilie es „den aus ihrer Sicht anderen“ auch nicht gerade leicht. Die Protagonisten leben nach dem Motto, „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Sie erfahren von ihrer Umwelt kein Verständnis und sie geben diese Haltung gnadenlos zurück. So werden die Jugendlieben Adams, des einzigen heldenhaften Heteros im Roman, es gibt noch andere Heteros, aber diese sind nicht heldenhaft, boshaft durch den Dreck gezogen. Das ist ordinär, vulgär, gemein und widerlich. Cis-Frauen geben kein gutes Bild ab in dem letzten Sessellift.
Geschickt ist es, in einer Welt, in der die meisten Gewalthandlungen von Männern ausgehen und diese Problematik im Buch auch hinreichend belichtet wird, dass Irving mit Adam einen „fast normalen“ Mann zum Icherzähler bestimmt hat. Allerdings ist Adam nicht so normal, wie es anfangs scheint; im Grunde genommen ist er beziehungsunfähig. Ein echter Sympathieträger ist eben auch Adam nicht. Man könnte über seine Fixierung auf ältere Frauen diskutieren. Inwieweit sie innerfamiliär bedingt ist, zum Beispiel oder ob sie „normal“ ist. Aber was ist schon „normal“? Wem steht darüber ein Urteil zu oder eine Deutungshoheit, insofern der Begriff "normal" eine Wertung beinhaltet und nicht einfach bedeutet: das, was die Mehrheit macht. Verschnupft sagt Adams Mutter zu ihm als er sagt, er wolle endlich ein normales Leben führen: „Jedes Lebewesen will ein normales Leben führen, selbst ein Tintenfisch.“ 

Durch den männlichen Icherzähler löst Irving geschickt ein Ungleichgewicht auf. Denn Männer sind nicht nur böse. Maskuline Gewalt muss thematisiert werden, darf aber nicht zu einem generellen Männerhass führen. Der icherzählende Adam ist von daher ein hervorragender Schachzug des Autors.
Da Irving über LGBTQA+ schreibt, ist Sexualität ein übergreifendes Thema, das alle anderen Themen überlagert; zeitweise scheint es, als ob sämtliche Protagonisten 24/7 pro Tag/Woche an nichts anderes dächten.
Dass die Protagonisten durch fehlende Innenschau/en fast leblos bleiben und deshalb dann doch irgendwie Stereotype sind, ist ein Manko. Andererseits baut Iriving zwei fulminante Höhepunkte in die Lektüre ein; man mag halb eingeschläfert worden sein, zum Beispiel durch das Lesen der Drehbücher, dann schreckt man doch wieder auf: Iriving macht seine Leser immer wieder wach. Das ist ein Plus. Und ich mag Schnee im Buch. Die Schneeszenen sind mein Highlight.

Ein Fazit: zu ziehen ist schwierig. Sowohl die auswalzende Erzählweise Irvings wie auch seine Gespenstermethode als Stilelement und Aufarbeitungsmittel von Tod und Sterben, entsprechen nicht meinem Geschmack. Gar nicht. Irvings Personal ist nicht my cup of tea, wie man so schön sagt. Der Film noir interessiert mich nicht die Bohne. Politisch sehe ich manches differenzierter. Dennoch ist „Der letzte Sessellift“ listig komponiert und alles sitzt an der richtigen Stelle. Handwerklich kann man nichts aussetzen und manche Szene ist sogar berührend. Aber Irvings Themen sind nicht meine.
 Ich werte hier nach Kunst, Komposition und Können und stelle meinen persönlichen Geschmack hintenan. 

Kategorie: Gesellschaftskritischer Roman
Verlag: Diogenes, 2023