Rezension

Romanbiografie mit überflüssiger Liebesgeschichte

Die Formel der Hoffnung -

Die Formel der Hoffnung
von Lynn Cullen

Bewertet mit 4 Sternen

Lynn Cullen will mit ihrer Romanbiografie die ungenannten Assistenten in der Polioforschung ins Rampenlicht rücken, die Angehörigen von Wissenschaftlern und Patienten, und nicht zuletzt Dr. Dr. Dorothy Millicent Horstmann. Im Gegensatz zu Jonas Salk (1914-1995) und Albert Sabin (1906-1993) ist Horstmann in Deutschland weitgehend unbekannt und hat bisher weder einen Eintrag in Wikipedia noch in fembio.org. Die junge Ärztin hatte als Kind noch den Ausbruch der Spanischen Grippe 1918 miterlebt.

Im Wissenschaftsbetrieb der 40er Jahre waren Bildungsaufsteiger und Frauen die absolute Ausnahme. Horstmann (1911-2001), die in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist und als Schülerin zeitweilig ihre Familie mit Musikstunden ernährte, nimmt am Anfang ihrer Laufbahn an, dass alle Mediziner aus der wohlhabenden US-Oberschicht stammen und sie die einzige Ausnahme ist. Ihre erste Stelle erhält sie nur durch den Zufall, dass sie sich als D. M. Horstmann beworben hat und ihr zukünftiger Chef einen Mann erwartet.

In den 40ern des vorigen Jahrhunderts kommt es in den Sommermonaten wiederholt zu Polio-Epidemien mit verheerenden Todeszahlen und schwerwiegenden Körperbehinderungen bei Kindern. Am Beginn von Horstmanns Laufbahn sind nur Einzelaspekte zu Polioinfektionen bekannt, die noch nicht zu einem Gesamtbild zusammenzufassen sind. Die junge Ärztin ist entschlossen, gegen das Virus, „so etwas Kleines“, den Kampf aufzunehmen und mit ihrer Forschung niemandem zu schaden. Doch zunächst steht sie den verknöcherten Strukturen des Forschungsbetriebs gegenüber, in dem offenbar alle gleichaltrigen männlichen Kollegen sehr früh Frauen ihrer eigenen Gesellschaftschicht heiraten, damit die gemeinsamen Kinder betreut sind und ihnen selbst der Rücken für die eigene Karriere freigehalten wird. Dass eine Frau für ihre Wissenschaft brennt, scheint so schwer vorstellbar wie die Tatsache, dass eine Wissenschaftlerin nicht in erster Linie berufstätig ist, um eine „gute Partie“ zu erwischen.

Lynn Cullen folgt ihren realen und fiktiven Forscherpersönlichkeiten und verschweigt die bekannten Revierkämpfe nicht, wenn Forscher den Ruhm möglichst allein einstreichen, ohne alle Beteiligten daran zu nennen – besonders, wenn es sich um eine KollegIN handelt. Wissenschaftler müssen auf zahlreichen Hochzeiten tanzen und sich u. a. mit Lehre, Vortragsreisen, Finanzierung und dem Presseecho auf ihre Tätigkeit befassen. Horstmann stellt dabei stets von neuem fest, dass ihr das berufliche und soziale Netzwerk ihrer männlichen Kollegen fehlt – und dass es für Frauen wie sie keinen Partner auf Augenhöhe gibt.

Mit 40 Jahren hatte Horstmann sich bereits eindeutig für die Wissenschaft und gegen ein privates Glück entschieden. Dass Lynn Cullen ihrer Protagonistin eine Liebesgeschichte und einen späten Kinderwunsch zuschreibt, konnte mich nicht überzeugen. Ausgerechnet eine Ärztin, die in den 50ern über eine Schwangerschaft mit 40 grübelt! Dieser Part nimmt im 450-Seiten-Umfang der Romanbiografie m. A. zu viel Raum ein zu Lasten der wissenschaftlichen Arbeit, die mich stärker interessiert. Überzeugen konnte mich ebenfalls nicht die beinahe einstimmige Bejahung der Versorger-Ehe durch die porträtierten Ehefrauen, die ich in einem Land wenig glaubwürdig finde, das gerade zwei Kriege (II. Weltkrieg und Korea-Krieg) hinter sich hat mit ihren Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung.

Fazit
Lynn Cullens Vorsatz, Dorothy Horstmann und weitere ungenannte Personen zu würdigen, finde ich gelungen. Dazu tragen besonders die Kurzbiografien realer Personen im Anhang bei, mit denen sich ihre Einstellungen in die 40er und 50er Jahre einordnen lassen. Die für die Epoche unglaubwürdige Liebesgeschichte hat mich dagegen gelangweilt.
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Die Polio-Impfung
Seit 1957 wurden Kinder in Deutschland mit der „Schluckimpfung“, auf ein Stück Würfelzucker geträufeltem Impfstoff, gegen Polio/Kinderlähmung geimpft. 1998 wird gegen Polio ein Totimpfstoff injiziert; die Krankheit ist jedoch noch nicht endgültig ausgerottet.