Rezension

Spannender und empathischer Roman um eine junge, engagierte Frau Ende des 19. Jahrhunderts - so wird Geschichte lebendig.

Elbleuchten -

Elbleuchten
von Miriam Georg

Bewertet mit 5 Sternen

Lily Karsten stammt aus einer gut situierten Reederfamilie. Zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Michel und dem älteren Bruder Franz lebt sie bei ihren Eltern in einer der besten Gegenden Hamburgs. Von der Armut, die in anderen Teilen der Stadt herrscht, wird sie erstmalig direkt konfrontiert, als ein Arbeiter beim Versuch ihren Hut zu retten, schwer verletzt wird und seine Familie damit ins Verderben stürzt. Lily hat ein schlechtes Gewissen und möchte helfen und lernt dabei einen Bekannten des verletzten Arbeiters, Johannes Bolton, kennen.  Er zeigt der in seinen Augen verwöhnten Reederstochter das Elend im Hamburger Gängeviertel. Für Lily, die nur dank des guten Willens ihrer Eltern am Lehrerinnenseminar eingeschrieben ist, gerät ihr Weltbild ins Wanken. Konfrontiert mit der augenscheinlich so ungerechten Kluft zwischen Arm und Reich, stellt sie durch den Einfluss einer neuen Kommilitonin auch bald die Unterschiede zwischen Mann und Frau in Frage. 
Mit Jo lernt sie das wirkliche Leben abseits ihres goldenen Käfigs kennen und fühlt sich schon bald zu ihm hingezogen - eine Verbindung, die nicht nur aufgrund ihrer Verlobung mit dem adeligen Henry von Cappeln nicht sein darf. 

„Elbleuchten“ ist der Auftakt der hanseatischen Familiensaga um Lily Karsten. Das Buch ist überwiegend aus der Sicht der reichen Reederstochter geschrieben, der bewusst wird, wie ungerecht der Wohlstand in der Gesellschaft verteilt ist und die zudem die untergeordnete Stellung der Frau gegenüber den Männern zu hinterfragen beginnt. Über Jos Perspektive erhält man Einblicke in die ganz andere Welt eines einfachen Hafenarbeiters. 
Lily ist zu Beginn unbedarft und naiv, verhält sich aber bereits ihren Eltern und ihrem älteren Bruder gegenüber aufsässig. Sie ist eine intelligente junge Frau, die lieber das Lehrerinnenseminar besucht - obwohl sie weiß, dass sie nie unterrichten wird, da sie Henry versprochen ist - als ihre Freizeit mit Handarbeiten zu verbringen. Der Unfall des Hafenarbeiters, der nur ihretwegen passiert ist, rüttelt sie wach und durch ihr schlechtes Gewissen sucht sie immer wieder den Kontakt zu Jo um der Familie des Hafenarbeiters zu helfen. 

Die Atmosphäre Hamburgs Ende des 19. Jahrhunderts wird durch die detaillierte bildhafte Beschreibung sehr eindrücklich eingefangen. Als Leser*in hat man die Gegensätze des herrschaftlichen Villenviertels in Bellevue und der armseligen Behausungen der armen Bevölkerung vor Augen und die Gerüche in der Nase. Sehr gut kann man sich dadurch in die damalige Zeit, aber auch die Protagonisten hineinversetzen, die alle individuell gezeichnet sind. Kein Charakter ist Schwarz-Weiß, auf Klischees wird verzichtet. Gerade Lily, der ihr privilegiertes Leben nicht mehr genug ist und die sich plötzlich so nutzlos wie eine leere Hülle vorkommt, kann man so gut verstehen. 
Lilys persönliche Entwicklung, wie sie Standesdünkel hinterfragt, sich über Frauenrechte Gedanken macht und beginnt, mutig für ihre Überzeugungen einzustehen ist genauso spannend, wie die sich abzeichnende Liebesgeschichte, die es nicht geben darf. 
Auch die Frage, wie es mit der Reederei Karsten weitergeht, die Franz trotz der Zweifel seines Vaters modernisieren möchte, fesselt, da Franz ein undurchsichtiger Zeitgenosse ist, der ein Geheimnis verbirgt, das ihn quält. Auch die Tatsache, dass der jüngste Sohn in seiner Entwicklung behindert ist, zeigt, dass selbst die Familie Karsten trotz ihres Wohlstands mit ganz eigenen Sorgen zu kämpfen hat. 

„Elbleuchten“ ist ein vielschichtiger historischer Roman, der den Leser bildhaft nach Hamburg versetzt und die Lebensverhältnisse Ende des 19. Jahrhunderts erlebbar macht. Es ist eine spannende und gleichzeitig empathische Geschichte über eine junge Frau, die die gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht länger hinnehmen möchte. Die Entwicklung ist nicht vorhersehbar, weshalb die Geschichte über Geschlechterrollen und soziale Gerechtigkeit durchgehend fesselt und neugierig auf den abschließenden Band 2 macht, der schon im April 2021 erscheint - zumal das Ende von Band 1 äußerst dramatisch gestaltet ist.