Rezension

Was im Leben wichtig ist

Wir sehen uns gestern -

Wir sehen uns gestern
von Emma Straub

Bewertet mit 4 Sternen

Manchmal stehe ich neben mir und überlege, wie ich schon so viele Jahre erlebt haben kann und mich gleichzeitig immer noch jung und unerfahren wie mit Anfang zwanzig fühle. Wobei, das trifft es gar nicht so genau. Es ist eher das Gefühl, dass das ganze Leben noch vor einem liegt, bis man sich erinnert, dass man eigentlich schon in der Mitte angekommen ist. So wie Alice in Emma Straubs Roman. Alice wird 40 Jahre alt und ist nicht unglücklich in ihrem Leben. Aber so richtig zufrieden ist sie auch nicht. Ihr Vater liegt seit vielen Wochen im Krankenhaus und wird täglich schwächer. Alice droht in absehbarer Zeit ihre wichtigste familiäre Bezugsperson zu verlieren und weiß nicht so recht, wie sie damit umgehen soll. So begegnet sie auch ihrem runden Geburtstag. Statt großer Party mit vielen Freunden begeht sie den Tag recht nüchtern und ändert dies erst kurz vor Schluss in einem Anflug von Nostalgie mit dem spontanen Besuch in der Bar ihrer Jugendtage. Das Haus ihrer Kindheit ist demzufolge auch viel näher als die eigene Wohnung, doch der Schlüssel zum Haus ihres Vaters findet sich einfach nicht in ihrer Tasche und so lässt sie sich betrunken im Gartenhäuschen nieder, um am nächsten Morgen im Körper ihres 16jährigen Ichs aufzuwachen und dem Vater jung und gesund am Küchentisch zu begegnen.  

Emma Straubs Roman ist die wohl unspektakulärste Zeitreisegeschichte, die ich bisher gelesen habe und doch nimmt sie mich auf eine berührende und aufwühlende Art und Weise mit, wie es zuvor nur die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig geschafft hat. In der Figur der Alice entdecke ich ganz viel von mir selbst und kann so viele ihrer Gedanken und Überlegungen nachvollziehen, wohl weil ich mich an einem ähnlichen Punkt in meinem Leben befinde wie Alice in ihrem. Das geht vielleicht nicht jedem Leser so und macht die Identifikation mit der Protagonistin möglicherweise schwieriger. Doch ich bin neidisch auf Alice, die durch ihren Ausflug zurück in die Jugend austesten kann, welchen Weg sie hätte auch gehen können und welche Auswirkungen das auf ihr 40jähriges Ich hat. Welcher Lebensentwurf fühlt sich richtig an? An welchen Vorstellungen meines 16jährigen Ichs sollte ich festhalten? Welche Konstanten bleiben? Für Alice ist das ihre beste Freundin Sam und ihr Vater. Der Vater, der 1996 so unglaublich jung und kraftvoll vor ihr sitzt, und zu dem sie zurück in die Gegenwart immer wieder ans Krankenbett kehrt. Den Tod scheint Alice nicht aufhalten zu können, wie sehr sie auch versucht, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Es bleibt nur, ihren Frieden mit der Situation zu finden und Abschied zu nehmen – von ihrem Vater und ihrem 16jährigen Ich.