Rezension

Wenn eine eine Reise tut

Das Mädchen mit dem Drachen -

Das Mädchen mit dem Drachen
von Laetitia Colombani

Bewertet mit 3 Sternen

Während der Lektüre „Das Mädchen mit dem Drachen“ drängte sich immer wieder ein Spruch aus meiner Studienzeit hinein in die Gedanken zum Buch: „Reisen ist oft nichts anderes als die Flucht vor sich selbst. Aber das Ich holt dich immer wieder ein.“ (Laut Google soll das Zitat von Otto von Leixner stammen.) Damit habe ich mich argumentativ gern gewehrt, wenn man mich damals vom Sinn des allseits beliebten Auslandssemesters überzeugen wollte. Gegen das Reisen habe ich nichts, ich reise gern, wenn auch nicht mehr so häufig. Reisen verändert die Perspektive und kann dein Leben bereichern, aber flüchtest du vor dir selbst, kann das nach hinten losgehen, weil Kummer, Angst und Sorgen leider nicht wie gewünscht zuhause bleiben. Diese Erfahrung muss auch Léna machen, die ihrem Schmerz entfliehen will und sich ein Land aussucht, das sie noch nie bereist hat. In Indien hofft sie, zu sich zu finden, einen Weg aufzutun, mit ihrem Schmerz umzugehen. Doch Lénas Schmerz ist so groß und sie in der Fremde so verloren, dass der Aufenthalt fast ein tragisches Ende für sie nimmt. Die Rettung kommt in Form eines kleinen Mädchens mit einem Drachen und einer Handvoll junger Frauen im trotzigen Kampf für sich selbst. Léna erfährt abseits der touristischen Pfade von einem harten, von Armut geprägten und männerdominierten Alltag der indischen Frauen am unteren Ende des Kastensystems und fühlt plötzlich ihren eigenen Kampfgeist wieder in sich erwachen. Der Wunsch zu helfen ist groß, doch der Schmerz nur eingedämmt. Wird diese Reise sie wieder zu sich selbst führen oder hat sie den Sinn im Leben für immer verloren?

Laetitia Colombani erzählt ihren dritten Roman aus der Perspektive der französischen Lehrerin Léna. Distanziert und vom eigenen Schmerz betäubt ist dieser Blickwinkel seltsam eingeschränkt und hält Léna als Figur etwas auf Abstand zu mir als Leserin. Was Léna widerfahren ist, wird anfänglich nur angedeutet und erst in der Mitte des Buches in seiner vollen Tragweite enthüllt. Der zweite Fokus im Buch liegt klar auf den vom Kastensystem gebeutelten Mädchen und Frauen Indiens. Der Blick der weißen Touristin auf eine Gesellschaft, die der eigenen so fremd ist, ruft in mir allerdings ein latentes Unwohlsein hervor, besonders als Léna nun helfen und eine Dorfschule gründen will. Colombani versucht zwar die Motive ihrer Figur und deren innerer Auseinandersetzung ausgewogen und differenziert darzustellen, doch ich bin unsicher, ob ihr das wirklich gelungen ist.

Bei meiner Suche nach dem richtigen Wortlaut des Eingangszitats bin ich über einen Spruch von Martin Buber gestolpert: „Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.“ Und kann auch noch einen weiteren von Gandhi beisteuern: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“ Beides zutreffend auf Léna und ihre Geschichte und genau das stört mich ein wenig. Mit Laetitia Colombanis Roman geht es mir ähnlich wie mit diesen weisen Sprüchen. Sie scheinen auf den ersten Blick mit einer tieferen Wahrheit tröstend und sinnstiftend zu wirken, doch steckt auch die Gefahr einer phrasenhaften Verallgemeinerung in ihnen, die eben keinen tiefen Effekt hinterlässt.