Rezension

Wie wichtig die STIMME ist

Rheinblick - Brigitte Glaser

Rheinblick
von Brigitte Glaser

Bewertet mit 4 Sternen

November 1972: Nachdem Willy Brandt die Vertrauensfrage gestellt hat und er zum wiederholten Mal gewählt worden ist, verliert er seine Stimme, noch bevor die neue Koalition steht und die neuen Minister eingestellt sind. Er muss operiert werden und darf 2 Wochen lang nicht sprechen. Am Rhein wird ein Mädchen der U.S. Hilfsarmee tot aufgefunden, sie lag zuvor im selben Krankenhaus wie Brandt. Gibt es eine Gemeinsamkeit?

Zur selben Zeit wird bei Hilde im "Rheinblick", einer kleinen Kneipe mit Tresen gegenüber dem Kanzleramt, über die aktuellen politischen Verhältnisse verhandelt. Hier treffen sich alle wichtigen Politiker, und wenn sie was getrunken haben, verraten sie auch unbemerkt ihre Geheimnisse. Es wird heiß diskutiert, wer welches Amt im neuen Parlament erhalten soll. Und Brandt, der stumm in der Klinik verweilt, bekommt nichts mit. 

Zeitgleich kommt die junge Journalistin Lotti in der Studenten-WG in der Dorotheenstraße an. Sie soll den Verrat an Brandt aufdecken. Doch interessiert sie sich selbst viel mehr für die Bildungsreformen, die anstehen sollen. Da wird die Leiche von einem jungen Mädchen in Hilfsarmeekleidung gefunden. Lottis Mitbewohnerin Sonja ist Krankenpflegerin und Logopädin an der Klinik, wo dieses Mädchen soeben noch gelegen hat. Es wurde erdrosselt. Außerdem ist Sonja die Sprachtherapeutin von Brandt und kämpft darum, dass der wichtigste Politiker in der BRD seine Stimme wiederbekommt. Und dann verschwindet auch noch Sonjas kleine Schwester Reni. Sie ist vor dem schlagenden Vater geflüchtet, der unter seinem Kriegseinsatz leidet. Die Erwachsenen reden nicht über die Kriegsereignisse, was wiederum dazu führt, dass die Jugend und die Studierenden sich erheben und protestieren. Sonja fragt ihren Cousin Timbulski um Hilfe, der ebenfalls Politiker ist und das Ministeramt in der Bildung übernehmen will. Dafür muss sie ihm wiederum Infos über Brandts Zustand und Besuche zukommen lassen. Denn eigentlich soll die Ex-Affäre von Hilde, Bömitz, diese Stelle übernehmen.

Die anderen WG-Mitbewohner, die Studenten, sind reaktiv und setzen sich für die Bildungsreformen ein. Lotti möchte viel lieber darüber berichten, aber sie ist ja leider nur eine Frau. Doch sie ist eine Kämpferin, macht die langweiligen Reportage-Jobs über die Großstadt Bonn für ihren Chef, so lange sie nichts über den politischen Verrat herausfindet. Dabei hilft ihr dann nicht ihr Kumpel Kurt, den sie aus politischen Clubs kennt, sondern der WG-Mitbewohner Max, Sohn eines Finanzpolitikers, der nicht mit Geld umgehen kann und sich seinen Lebensunterhalt mit Taxifahrten verdient. Und dabei stößt er auf Sexskandale von Politikern.

Schließlich ergibt sich eins nach dem anderen. Lotti bekommt immer mehr Sensations-Artikel.
 

Zunächst war ich skeptisch, dass es in diesem Buch nur um die politischen Fragen geht, die ich nicht verstehen würde. Es geht um die Misstrauensfrage und die Wiederwahl Brandts, wobei ich tatsächlich nicht ganz verstanden habe, wer wen warum wie verrät. -Zuvor wollte Schmidt selbst Kanzler werden, aber es hat nicht geklappt.-
Gleichzeitig lässt sich der Roman aber auch als Krimi lesen. Ein Hilfsarmeemädchen ist umgekommen und der Mörder könnte ein politisches Motiv gehabt haben. Lotti, die Journalistin recherchiert dann über Heimkinder und setzt sich zunehmend für ihre eigene Gleichberechtigung als Frau in der Arbeitswelt ein. Die Erzählung ist auch ein Abbild der Studenten- und Reformbewegung der frühen 70er Jahre. Jedes Kapitel hat außerdem einen Songtitel als Namen. Die Atmosphäre der 70er wird eingefangen. Auch Hildes Kneipe wird urig beschrieben. Zudem kommt der kölsche und bönnsche Dialekt nicht zu kurz. 

Unterhaltsam und spannend!