Rezension

Die Dritte Generation

Amon - Jennifer Teege, Nikola Sellmair

Amon
von Jennifer Teege Nikola Sellmair

Bewertet mit 5 Sternen

„Was ist Familie, das, was wir erben, oder das, was wir miteinander teilen?“ Jennifer Teege weiß es nicht mehr, sie distanziert sich zunächst von ihrer Adoptivfamilie als sie in ihrem achtunddreissigsten Lebensjahr durch reinen Zufall erfährt, dass sie die Enkelin von Amon Göth, dem Kommandanten des Arbeits- und Konzentrationslagers Plaszów in Polen ist, von Amon Göth, dem Schlächter, einem psychopathischen und sadistischen Mörder: so ist er in die Geschichte eingegangen.

Sie reagiert verstört und vorwurfsvoll, warum hat man ihr die Familiengeschichte verschwiegen? Als Kind hat sie, vierwöchig in ein katholisches Kinderheim, mit drei Jahren in die Pflegefamilie gegeben, mehrmals engste Bezugspersonen verloren, die Mutter, die Großmutter, Schwester Magdalena, sie alle haben sich in Luft aufgelöst, sind wortlos verschwunden. Zwar haben die Adoptiveltern den Kontakt zur leiblichen Mutter und zur Großmutter nicht sofort und vollständig unterbunden, aber zum vermeintlichen Wohl des Kindes auch nicht gern gesehen oder unterstützt. Erklärungen gab es nicht. Es war nicht die Zeit der Erklärungen, die Menschen und die Psychologie waren noch nicht soweit.

Jennifer geht nach dem Abitur nach Paris, dort lernt sie junge isralische Frauen kennen, sie besucht Israel, bleibt und studiert in Tel Aviv Afrikanistik und die Geschichte des Mittleren Ostens, hebräisch lernt sie auch. Sie ist unbefangen, denn sie weiss  noch nichts davon, dass sie zu der dritten Generation der Täter gehört.

Jennifer leidet unter Depressionen. Sicherlich hängt ihre Krankheit, die sie sich nicht erklären kann, auch mit den Verlusterfahrungen ihrer Kindheit zusammen. Aber da ist noch mehr: das Schweigen, das sie belastet, eine dunkle sie umgebende Wolke: diesem angstmachenden Nebel will Jennifer nachgehen, ihn auflösen, sie macht sich an den quälenden Weg der Aufarbeitung: besucht die Orte des Schreckens, spricht mit Zeitzeugen, spürt die leibliche Mutter auf und erzwingt Gespräche. Den Vater hat sie schon viel früher gefunden, er kommt ihr nicht nahe, sie fühlt sich überfordert von seiner zahlreichen Familie.

Jennifer Teege hat sich die Zeit genommen, die sie brauchte, um sich zu nähern, um zu verstehen, wenigstens ansatzweise, um ihre eigenen Gefühle zu spüren, zuzulassen, zu akzeptieren, um die Schuldfrage zu klären. Ist da eine Schuld, die auch sie betrifft? Um sich zu versöhnen? Um authentisch zu werden, authentisch bleiben zu können, gerade auch im Umgang mit ihren israelischen Freunden.

Und um zu wissen, wohin sie gehört. Letztendlich. Und um weiterzuleben, ohne dass der Nationalsozialismus das Leithema des Lebens wird, wie es bei der Mutter der Fall war.

Die Autobiografie Jennifer Teeges und deren Verarbeitung durch Nikola Sellmaier zeichnet sich durch eine hohe Sach- und Sprachkompetenz aus, die es ermöglicht, die schmerzhafte und schuldhafte Geschichte des Holocaust, - seines Schreckens, seiner Grausamkeit, seiner Unmenschlichkeit -, dessen Auswirkung bis in die heutige Generation hinein spürbar ist , ohne emotionale Überzeichnung, ohne Rührseligkeit und ohne künstliche Zerknirschung, jedoch mit grosser Betroffenheit und tiefer Einsicht anhand eines Einzelschicksals zu vermitteln. Dafür gebührt Jennifer Teege Respekt. Denn nie dürfen wir vergessen!

Den einzigen Kritikpunkt bildet der reißerische Untertitel, ihn hätte es wirklich nicht gebraucht, das Buch spricht für sich.

Fazit: Dieses Buch ist sehr leicht lesbar, lesbar für jedermann, und doch stehen die Autoren meiner Meinung nach thematisch beinahe in einer Reihe mit Herta Müller. Daher gebe ich eine unbedingte und hundertprozentige Leseempfehlung.