Rezension

Ein absolut lesenswertes Buch über Terror in Deutschland und die Frage, ob Schuld verjähren kann

Schlaf der Vernunft
von Tanja Kinkel

Tanja Kinkel ist eine meiner Lieblingsautorinnen. Bereits in der Vergangenheit konnten mich viele ihrer historischen Romane begeistern. Daher konnte ich natürlich an ihrem neuen Werk "Schlaf der Vernunft" nicht vorbeigehen. Und ich wurde nicht enttäuscht! Die Art, wie Tanja Kinkel das heikle Thema Terrorismus anpackt und schriftstellerisch umsetzt ist einfach genial!

Terrorismus in Deutschland - ein erschreckendes Thema, mit dem wir uns traurigerweise auch aktuell befassen müssen. Und doch liegt die letzte Schreckenszeit noch nicht lange hinter uns. Es ist der Herbst 1977, in dem Deutschland erschüttert wird durch eine Anschlagswelle der terroristischen Vereinigung Rote Armee Fraktion, kurz RAF. Der Deutsche Herbst zählt zu einer der schwersten Krisen der Bundesrepublik Deutschland. Die Gewalt gipfelte in der Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers sowie der die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs Landshut.

Mit "Schlaf der Vernunft" ist es Tanja Kinkel gelungen, ein sehr schwieriges, beklemmendes Thema aus verschiedenen Perspektiven darzustellen. Auf der einen Seite stehen die Angehörigen der Opfer, auf der anderen Seite die Täter selber. Da ich bei meinen Recherchen nichts über eine Martina Müller in Bezug auf die RAF finden konnte, gehe ich davon aus, dass es sich bei der Hauptprotagonistin um eine fiktive Person handelt. Nach 20 Jahren Gefängnis soll die Terroristin Martina Müller nun begnadigt werden. Ihre Tochter Angelika kann sich darüber nicht so recht freuen. Zu tief sitzt der Schmerz, dass sie von der eigenen Mutter verlassen wurde. Doch ihre Mutter hat nicht nur ihr Kind im Stich gelassen, sondern sich auch noch einer Terrororganisation angeschlossen: Der RAF, in dessen Namen sie einen Anschlag verübte und zur Mörderin wurde. Nun, so viele Jahre später, soll Angelika ihrer Mutter nach ihrer Entlassung zur Seite stehen. Eine Aufgabe, die für Angelika mit großen Schmerzen verbunden ist und ihr unmöglich erscheint.

Der Einstieg in das Buch ist mir sehr leicht gefallen. Die Geschichte beginnt im Jahre 1998. Durch Rückblenden, die den Zeitraum von 1967 bis 1977 umfassen, erfährt der Leser den Werdegang von Martina Müller und den der anderen Protagonisten. Es wird auf eine sehr eindringliche Art und Weise veranschaulicht, wie es dazu kommen konnte, dass aus einer normalen Schülerin eine gesuchte Terroristin wurde. Besonders erschreckend finde ich hierbei die Parallelen zu unserer aktuellen politischen Situation. Auch heute, vielleicht sogar jetzt in dieser Sekunde, gibt es in Deutschland junge Menschen, die sich dazu entschließen, die Terrorgruppe ISIS zu unterstützen. Gerade diese jungen Menschen gleichen jenen jungen Männern und Frauen, die ein ganz normales Leben führten und dann plötzlich von Zuhause ausrissen, um sich der Terrorgruppe RAF anzuschließen! Also ein hochaktuelles, brisantes Thema, das Tanja Kinkel brillant umgesetzt hat!

Das Hauptaugenmerk von "Schlaf der Vernunft" liegt auf der schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung zwischen der Ex-Terroristin Martina Müller und ihrer Tochter Angelika, die mittlerweile erwachsen und selber Mutter zweier Kinder ist. Kann Angelika ihrer Mutter ihre bittere Jugend, in welcher sie bei den Großeltern aufwachsen musste, damit ihre Mutter sich weiter radikalisieren konnte, verzeihen? Wird Martina Reue zeigen und Angelika gegenüber den ersten Schritt machen? Diese Geschichte geht auf jeden Fall unter die Haut und jagt dem Leser eiskalte Schauer den Rücken hinunter. Aber auch andere Protagonisten bieten reichlich Stoff zum Nachdenken, wie beispielsweise der einzige Überlebende des Attentates, der Leibwächter Steffen Seidel. Er hat durch die Ereignisse teilweise sein Gedächtnis verloren und fragt sich immer wieder, inwiefern ihn Schuld an den Ereignissen trifft und ob er komplett versagt hat. Aber auch die anderen Opfer spielen eine wichtige Rolle für das gesamte Betrachten der Ereignisse. Ihr Leben hat sich von einem Tag auf den anderen grundauf verändert. Jeder versucht auf seine eigene Weise, irgendwie mit dem Erlebten fertig zu werden. Tanja Kinkel ist der schwierige Balanceakt gelungen, Täter wie Opfer, zu Wort kommen zu lassen und die Täter nicht von vorneherein zu verurteilen. Ein sehr spannendes Buch zu einem dunklen Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Topaktuell und sehr empfehlenswert! Obwohl das Buch zwischenzeitlich ein paar Längen aufweist, konnte ich es kaum aus der Hand legen. Tanja Kinkel beweist, dass sie nicht umsonst zu den erfolgreichten Bestsellerautoren zählt. Ihr Schreibstil und ihre Sicht der Dinge reißen den Leser förmlich mit sich und offenbaren ungeahnte Blickwinkel.

Fazit: Der Deutsche Herbst, Terrorismus in Deutschland - Ein absolut lesenswertes Buch über Terror, betrachtet aus verschiedenen Perspektiven und die Frage, ob Schuld verjähren kann. Schriftstellerisch brillant umgesetzt.