Rezension

Annäherung an den Deutschen Herbst.

Schlaf der Vernunft
von Tanja Kinkel

Bewertet mit 4 Sternen

Also - dieser Roman ist wichtig für die jüngere Generation, die den Deutschen Herbst nur vom Hören-Sagen kennt. Terror gab es in Deutschland in dieser Form vor der Roten Armee Fraktion nicht. Schon damals war der Staat ziemlich hilflos. Ob Deutschland inzwischen besser vorbereitet ist und ob es bei uns niemals ein Guantanamo gibt? Mir scheint, solche Missstände hängen sehr oft nur von begünstigenden Umständen ab.

Eine Terroristin der Roten Armee Fraktion, Martina Müller, wird nach langer Haftzeit begnadigt. Die Angehörigen der Opfer und der Täterin geraten deshalb, so viele Jahre nach dem entsetzlichen Geschehen erneut in emotionalen Aufruhr.

Tanja Kinkel hat sich in ihrem neuesten Roman dem Terror des Deutschen Herbstes und dessen Auswirkungen gewidmet. Diese Annäherung ist ihr gelungen, denn obwohl ihre Figuren rein fiktiv sind, hat sie mithilfe penibler Recherche so viele Fakten in die Romanhandlung einfließen lassen können, dass ein stimmiges und atmosphärisches Bild des Deutschen Herbstes entstand und der Leser sich mit den Motiven und dem Gedankengut der RAF-Terroristen vertraut machen konnte. Die Rolle des Staates, der mit Hilflosigkeit und Grausamkeit reagierte, ist ebenfalls gut herausgearbeitet. Doch besonders die Opferseite ist es, die sie in den Mittelpunkt stellt.

Die Lektüre fällt leicht wegen des ruhigen Stils und einem ungebrochenen Erzählfluss, doch findet die Erzählung überwiegend in Plusquamperfekt und Konjunktiv statt und es führt innerhalb der kurzen Kapitel zusätzlich eine Mini-Rückblende zur anderen, so dass wenig Lebendigkeit, Eindringlichkeit und Unmittelbarkeit entsteht.

Chronologisch und personell wechselt die Szenerie zu oft, die knappen Kapitel enden häufig mit einem Cliffhanger. Das soll Spannung erzeugen, hat mich aber im Laufe der Lektüre verärgert, denn kaum wurde ich warm mit einer Person und wollte mich auf sie einlassen, schwups, war sie schon wieder weg, so dass mir die Person wieder entglitt, die Protagonisten waren wie Wasser in meiner Hand ... .

Die Dialoge sind eine weitere Schwachstelle. Man merkt all zu deutlich, dass durch sie Information vermittelt werden muss und sie sind nach meiner Einschätzung weder natürlich noch authentisch. A propos Authentizität, die Figuren sind es nicht! Die Gestaltung der Mutter-Tochter-Linie zum Beispiel habe ich nicht im Mindesten nachempfinden können. Viele Handlungsträger erscheinen gedämpft und verkopft. Der Bezug zum Titel wird nach meinem Empfinden ebenfalls kaum diskutiert.

Was also sagen? Ich schätze die ruhige Atmosphäre und die aufgeworfenen Fragen. Die Darstellungsweise konnte mich dagegen nicht so richtig überzeugen. Überaus positiv ist dagegen zu veranschlagen, dass es keine rührseligen Liebesgeschichtchen gibt und die Autorin so nahe wie möglich an das tatsächliche Geschehen rückt.

„Schlaf der Vernunft“ ist ein Roman mit merklichen Schwächen in Dialogen und Protagonisten! Aber auch ein gut recherchiertes, stimmiges Bild jüngster deutscher Vergangenheit.

Fazit: Der vierte Stern wackelte sehr. Doch der Verzicht auf Liebesgeschwafel und Rührseligkeit hat ihn dann doch zum Leuchten gebracht, zusammen mit einer, allerdings bedingten, Leseempfehlung, nämlich für alle diejenigen, die diese Zeit nicht persönlich erlebt haben.

Kategorie: historischer Roman
Verlag: Droemer, 2015

Kommentare

Naibenak kommentierte am 03. Dezember 2015 um 12:16

Hmm....tolle, aussagekräftige Rezi (wie immer^^)! Aber ich bin unschlüssig, deine Kritiken betreffen Punkte, auf die ich viel Wert lege. Andererseits könnte mir etwas "Nachhilfeunterricht" zur damaligen Zeit nicht schaden...;-) Ich setze das Buch mal vorsichtig auf meine WuLi und danke dir!