Rezension

Tanja Kinkel - Schlaf der Vernunft

Schlaf der Vernunft
von Tanja Kinkel

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzbeschreibung: 
Nach 20 Jahren Gefängnis wird Martina Müller zeitgleich mit der RAF-Auflösung begnadigt. Das "Mörder-Monster", wie die Presse bei ihrer Verurteilung schrieb. Ihre Tochter Angelika, die ihre Entschlossenheit nie verstanden hat, soll ihrer Mutter nach der langen Haftzeit beistehen, obwohl jedwede Verbindung abgebrochen war. Martina, mit 48 noch jung, muss erkennen, dass nichts erreicht wurde, jeder Mord umsonst gewesen war. Um herauszufinden, ob sich ihre Mutter geändert hat, Reue in sich entdeckt, und Teil ihrer Familie werden kann, muss Angelika Martinas Spuren folgen. Von der Sympathisantin, über die Illegalität und dem Gängelband der Stasi, bis hin zum großen Attentat. Aber nicht nur sie. Durch die Begnadigungen gibt es zwar Ex-Terroristen, aber Ex-Opfer gibt es nicht, denn deren Leid verjährt nie. So taucht der Sohn eines RAF-Opfers auf, der wissen will, wer damals geschossen hat. Ehefrauen, Mütter und der einzig überlebende Leibwächter: Alle haben auch nach Jahrzehnten offene Fragen. *Quelle*

Zur Autorin: 
Tanja Kinkel, geboren 1969 in Bamberg, gewann bereits mit 18 Jahren ihre ersten Literaturpreise. Sie studierte in München Germanistik, Theater- und Kommunikationswissenschaft und promovierte über Aspekte von Feuchtwangers Auseinandersetzung mit dem Thema Macht. 1992 gründete sie die Kinderhilfsorganisation "Brot und Bücher e.V.", um sich so aktiv für eine humanere Welt einzusetzen (mehr Informationen: www.brotundbuecher.de). Tanja Kinkels Romane wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt; sie spannen den Bogen von der Gründung Roms bis zum Amerika des 21. Jahrhunderts. Zu ihren bekanntesten Werken gehören Die Löwin von Aquitanien (1991), Die Puppenspieler (1993), Mondlaub (1995), Die Schatten von La Rochelle (1996), Die Söhne der Wölfin (2000), Götterdämmerung (2003), Venuswurf (2006), Säulen der Ewigkeit (2008) und Im Schatten der Königin (2010), Das Spiel der Nachtigall (2011), Verführung (2013) und Manduchai. Die letzte Kriegerkönigin (2014). 

Meinung: 
Deutschland 1998: Die Endzwanzigerin Angelika Limacher ist glücklich mit dem Zahnarzt Justus verheiratet und hat zwei Söhne, Micha und Max. Doch diese bisherige Idylle in ihrem Leben wird überschattet. Ihre Mutter Martina wird nach 20 Jahren Gefängnis begnadigt und auf freien Fuß gesetzt. Sie war Mitglied der RAF und am Mord an Staatssekretär Eberhard Werder beteiligt.

Angelika gerät dadurch in einen Zwiespalt, denn einerseits ist ihr die Mutter mit ihren radikalen Ansichten und Taten fremd, sie ließ sie damals allein, um in den Untergrund zu gehen. Andererseits aber sehnt sie sich zurück nach einem normalen Mutter-Tochter-Verhältnis. Aber auch bei den Angehörigen der damaligen Opfer reißt die Entlassung Martina Müllers die alten Wunden wieder auf und jeder versucht, mit der kommenden neuen Situation fertig zu werden.

Tanja Kinkel widmet sich in ihrem neuen Roman dem Thema RAF, von der Entstehung aus der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre heraus über die Kaufhausbrände in Frankfurt, der Todesnacht von Stammheim bis hin zur Auflösung der Gruppe.

Die Protagonisten sind fiktive Personen, die Hintergründe aber real. Im Mittelpunkt steht Angelika Limacher, die Tochter der Ex-Terroristin Martina Müller. In zwei Zeitebenen wird einerseits über Angelika im Jahre 1998 berichtet, die sich inzwischen eine Familie und ein annehmliches Leben aufgebaut hat und die Nachricht erhält, dass ihre Mutter bald schon aus dem Gefängnis entlassen wird.

Auf einer zweiten Zeitebene wird über ihre Mutter Martina berichtet, die 17-jährig Ende der 1960er Jahre auf einer Klassenfahrt nach Berlin den Schah-Besuch und die danach stattfindenden Ausschreitungen und den Mord am Studenten Benno Ohnesorg mitverfolgt. Erst als Sympathisantin der Bewegung (in dieser Zeit lernt sie Holger Meins kennen), geht sie später in den Untergrund und ist an dem Attentat auf den Staatssekretär des Justizministeriums, Eberhard Werder, aktiv beteiligt.

Auch zahlreiche Nebencharaktere werden in die Geschichte miteingeflochten, die immer noch an den Folgen des Deutschen Herbstes leiden, wie z.B. der ehemalige Personenschützer Steffen Seidel, der als einziger das Attentat auf Werder überlebt hat, aber durch ein längeres Koma nie mehr ganz zu seiner alten Gesundheit zurückfand, aber auch die Familie Werders und der Sohn seines Chauffeurs, der ebenfalls zum Opfer wurde.

Die zentralen Themen sind Vergebung, Reue, Schuld, Rachegefühle, das Verstehen der Motivation der Täter, aber auch die Familie. Hier hat Tanja Kinkel einwandfrei recherchiert und verbindet gekonnt Fiktives mit Realem. Vor allem der Mutter-Tochter-Konflikt steht hier im Mittelpunkt, aber auch das Täter-Opfer-Verhältnis. Wer sich für die Geschichte der RAF interessiert, wie eine Radikalisierung entsteht und welche Folgen dies für die Angehörigen bedeutet, sollte hier definitiv einen Blick riskieren.

Allerdings wäre es ratsam, sich vorher weitergehender Lektüre über die RAF zu widmen, da in diesem Roman meiner Meinung nach vieles nur angeschnitten und eine gewisse Vorkenntnis vorausgesetzt wird. Zu empfehlen wäre hier Der Baader-Meinhof-Komplex von Stefan Aust und das von mir sehr geschätzte Tödlicher Irrtum von Butz Peters.

Fazit: 
Schlaf der Vernunft ist ein sehr lesenswerter Roman, der sich mit der Geschichte der RAF aus der Sicht einer fiktiven Ex-Terroristin, ihrer Tochter und den Angehörigen der Opfer beschäftigt. Für interessierte Leser der jüngeren deutschen Geschichte uneingeschränkt empfehlenswert!