Rezension

Gelungener Abschluss einer besonderen Reihe, die mit ihrem Ideenreichtum punktet

Die Bibliothek der besonderen Kinder
von Ransom Riggs

Bewertet mit 4 Sternen

Drei Jahre nach dem Auftaktband um die „besonderen Kinder“ erfahren wir endlich, welches Schicksal die kleine Gruppe Besonderer erwartet. Und soviel sei verraten: Es endet nicht auf die leise Art! Ransom Riggs hat mich in dem dritten Teil seiner Trilogie abgeholt und mitgenommen. Und auch wenn er mich nicht auf jeder Seite in Begeisterungsstürme versetzen konnte, kleinere Schwächen der Reihe noch einmal deutlich wurden, so präsentiert der Autor im Finale doch ein solches Feuerwerk an Originalität, dass ich mehrfach nahe am ehrfürchtigen Kniefall vor solch einem Maß an Kreativität war.

 Es beginnt dort, wo „Die Stadt der besonderen Kinder“ endet. In einer Londoner U-Bahnstation der Gegenwart. Entführt von Wights, eingeschlossen in einer Telefonzelle, bedroht von einem Hollow, sind Jacob, Emma und der Hund Addison in einer ausweglos scheinenden Sackgasse gelandet. Bösewicht Caul hat sein Ziel erreicht. Sämtliche Ymbrynen sowie die kräftig Widerstand leistenden Insel-Besonderen konnte er in seine Festung verschleppen und sich in einer Zeitschleife namens Devil’s Acre verschanzen. Hierhin also führt der letzte Gang unserer rebellischen Kinder – an einen Ort karger Trostlosigkeit, Hoffnungs- und Morallosigkeit. Wie passend für die Wights! Das Gegenteil der Inseloase.

 Ein Freund von Rückschau scheint Ransom Riggs allerdings nicht zu sein. Ohne Erklärungen zum bisherigen Geschehen steigt der Autor (wie bereits in Band 2) in die Handlung ein und um ehrlich zu sein, musste ich den Vorgängerband zur Hilfe nehmen, um mir die letzten rasanten Ereignisse in Erinnerung rufen zu können. Trotzdem fielen mir Bezüge nicht immer leicht. Zwar kann man der Geschichte wunderbar folgen, wird dabei aber das Gefühl nicht los, dass Details des Plots links und rechts am Wegesrand der Gehirnwindungen verloren gehen.

 Einen äußerst positiven Einschnitt macht Ransom Riggs hingegen mit der anfänglichen Reduktion der Charaktere auf Jacob, Emma und Addison. Obgleich alle Besonderen (ja, selbst Enoch!) einen festen Platz in meinem Herzen haben, verlor sich der zweite Teil für meinen Geschmack zu sehr in Ereignisfülle und Charakterschau. Mit der Fokussierung des Augenmerks gibt uns Ransom Riggs nun die nötige Gelegenheit, die Gefühle und Entwicklung von Ich-Erzähler Jacob nachvollziehen zu können, was mehr als angebracht ist, da sich unser Held kurz vor dem großen Show-Down wichtige Fragen stellen muss. Besitzt Jacob die Kraft, diesen letzten Kampf zu bestehen? Kann er seine Fähigkeit nutzen und verstärken? Wird es für ihn eine Zukunft an der Seite von Emma geben? Oder wird er schließlich in sein altes Leben, in den Schoß seiner Familie zurückkehren? Mit dieser Rückbesinnung auf innere Auseinandersetzungen folgt „Die Bibliothek der besonderen Kinder“ wieder der Struktur des ersten Bandes, was in meinen Augen die Stärke des Buches entscheidend mit ausmacht.

 Wobei die Konstruktion der Charaktere dann doch so eine Sache ist. Knappe zusammengefasste Gefühlslagen wechseln bei Ransom Riggs mit kurzen tiefgründig-philosophischen Betrachtungen, lassen die Figuren mal eindimensional, dann überraschend vielschichtig wirken. Auch die Ambivalenz einiger Protagonisten ist irritierend kontrastreich umgesetzt. Da wird auf Knopfdruck von Gut auf Böse und zurück zu Gut gewechselt. Der Vorwurf fehlender Feinzeichnung fällt trotzdem schwer, da Ransom Riggs etwa den Persönlichkeiten und dem Erfahrungsschatz seiner Besonderen durchgehend Rechnung trägt. Nie verliert er aus den Augen, dass viele seiner „Kinder“ zugleich alt und jung sind, was sich in deren Handeln teils ergreifend spiegelt.

 Wo der Plot einerseits zu dürftig erscheint, glänzt er auf der anderen Seite mit bestaunenswerter Fülle – nämlich dort, wo es um des Autors Einfallsreichtum geht und darum die abermals kuriose Bildauswahl mit Geschichten zu verknüpfen und Fantasieorte entstehen zu lassen.

So gleiten Jacob, Emma und Addison durch dicken, gelben Nebel, auf einem von einer undurchsichtigen Kapuzengestalt namens Sharon (I love him!) gesteuerten Boot ins Niemandsland eines vergangenen Jahrhunderts. Hier treffen wir auf eine eindrucksvolle Kulisse aus Armut und Lasterhaftigkeit, eine klamme Stimmung des Misstrauens sowie die sonderbarsten Gestalten. Schließlich erfahren wir von der Bibliothek der Seelen. Ziel des machthungrigen Caul.

 Man wird das Gefühl nicht los, dass Riggs erstaunlich viel Spaß beim Schreiben hatte. Mit Devil’s Acre erschafft er einen unheimlich-atmosphärischen Ort, der diesem Finale würdig ist und neue Charaktere, die jede nur erdenkliche Gefühlsregung in mir wachriefen – Abgestoßenheit, Faszination, Erstaunen., Entsetzen und Rührung (alles vereint übrigens in Mother Dust!). Und sogar der Humor kommt nicht zu kurz.

 „Ich glaube, Mord wird mit Vorbehalt toleriert“

„Ist hier überhaupt irgendetwas illegal?“, fragt Addison.

„Die Säumnisgebühren in der Bücherei sind ziemlich hoch. Zehn Peitschenhiebe pro Tag und das ist nur für die Paperback-Ausgaben.“ (S. 116)

 Fast schon bedauerlich ist, dass vielen Ideen nicht mehr Raum und Zeit zugestanden wird. Denn fast jeder Charakter scheint ein eigenes Buch verdient zu haben.

Aber Riggs will seine Geschichte zu Ende erzählen. Und er hat in der Tat viel aufzuholen, schien die Entwicklung im zweiten Teil doch von den Hintergründen etwas abzukommen. Bisweilen liegt die Vermutung nahe, dass dem Autor nun die entscheidenden Puzzleteile einfallen, die er im zweiten Band nicht finden konnte und dort stattdessen mit unterhaltsamen aber teilweise etwas unnötig anmutenden Szenen aufwartete.

 Enttäuscht hat mich im Endspurt – das muss auch gesagt werden - die zu einfache Abhandlung von Konfrontationen. Hollows und Wights gegen Ymbrynen und Besondere. Mal haben die einen die Oberhand, mal die anderen, schließlich werden die Charaktere viel zu schnell auf eine überschaubare Zahl reduziert und die finale Begegnung mit dem Oberbösewicht ist zwar mitreißend, aber ausgesprochen trivial und hollywoodtauglich angelegt. Sehr viel mehr als mit der Storyline punktet Riggs nunmal mit Details.

 „Die Bibliothek der besonderen Kinder“ war für mich trotzdem – ich hatte es so sehr gehofft – der befriedigende Abschluss einer drei Jahre währenden Reise, die ich vor allem aufgrund vieler grandioser Details in allerbester Erinnerung behalte! Die Trilogie um die besonderen Kinder überzeugt auf  außergewöhnliche Art durch Spannung und Gefühl, bereitet immenses Unbehagen und rührt Herz und Seele. Nicht in jeder Hinsicht perfekt, aber ja, besonders!