Rezension

Neuentdeckung: Vorläufer von "Wer die Nachtigall stört"

Gehe hin, stelle einen Wächter - Harper Lee

Gehe hin, stelle einen Wächter
von Harper Lee

Jean Louise lebt in New York, aber für zwei Ferienwochen kehrt sie zurück in ihre Heimatkleinstadt in Alabama. Sie tut sich schwer mit ihrer alten Heimat: Einerseits bedauert sie die Veränderungen, andererseits regt sie sich über die Rückständigkeit auf. Tante Alexandra trägt immer noch ihr Fischbeinkorsett und geht darin auf, Kaffeekränzchen zu organisieren, bei denen Kinder, Küche, Kirche und Klatsch die Themen sind. Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie ihren Jugendfreund Henry "Hank" heiraten möchte oder nicht - er ist ihr lieb und vertraut, doch Leidenschaft empfindet sie nicht. Reicht das für eine Beziehung? Und könnte sie sich an das ewig gestrige Kleinstadtgefüge anpassen? Doch diese Frage stellt sich plötzlich nicht mehr: Sie beobachtet Henry und ihren geliebten Vater, Rechtsanwalt Atticus Finch, bei einer Sitzung des Bürgerrates: Hier will man sich gegen die Gleichstellung der Schwarzen wehren. Das schockiert sie bis ins Herz: Sie kennt ihren Vater nur als zutiefst integren Menschen, der jeden Menschen unabhängig von seiner Hautfarbe respektiert. Ihr Vater hat ihre Weltanschauung geprägt; sie hat seine moralischen Ansichten immer geteilt; er war das Idol ihrer Kindheit. Nun stürzt der Gott vom Thron und Jean Louises Welt bricht zusammen...

Das Buch beschreibt die Auseinandersetzung einer Tochter mit ihrem Vater, eines jungen Menschen mit seinem Vorbild und Idol. Jean Louise muss sich von ihrer kindlichen Gewissheit lösen; sie muss lernen, die Welt differenzierter zu betrachten. Ihr Idealismus wird einem Realismus gegenübergestellt; Konsequenz trifft auf Kompromiss. Das ist nicht einfach, doch es ist ein Teil des Erwachsenwerdens. Ich verstehe dieses Buch als einen Entwicklungsroman, der mit seinen Grundfragen noch heute aktuell ist. Das zweite Thema ist die Gleichberechtigung der Rassen; auch das ist nach wie vor brisant. Die Themen sprechen mich an; das Buch besteht allerdings zu großen Teilen aus Dialogen zwischen Jean Louise und ihrem Freund, ihrem Vater oder ihrem Onkel - "action" sucht man vergeblich. Um diesen Dialogen wirklich folgen zu können, braucht man einiges Wissen über das Zeitgeschehen in den fünfziger Jahren der US-amerikanischen Südstaaten. Ich kenne zwar die Grundzüge und habe auch schon von der NAACP gehört, doch der Zehnte Zusatzartikel der Verfassung und die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes sagen mir nichts - hier wäre eine Erläuterung im Nachwort hilfreich. Auch die vielen literarischen Anspielungen erkenne ich nur zum Teil und weiß daher nicht, was mir alles entgeht. Daher ist mein Lesevergnügen doch etwas eingeschränkt.

Die Autorin Harper Lee hat dieses Buch in den fünfziger Jahren geschrieben. Das Buch wurde nicht zur Veröffentlichung angenommen - war es den Verlegern zu brisant wegen der aktuellen Rassenunruhen oder hatten sie literarische Einwände? Anscheinend wurde ihr geraten, ein Buch über die Kindheit von Jean Louise "Scout" zu schreiben, und das tat sie denn auch: "To Kill a Mockingbird" wurde zu einem großen Erfolg, der mit dem Pulitzer-Preis geehrt und durch die Verfilmung mit Gregory Peck auch Nichtlesern bekannt wurde. (Warum der Titel mit "Wer die Nachtigall stört" übersetzt wurde, ist mir allerdings nicht klar...) Nun, über fünfzig Jahre später, wurde der Erstling wieder entdeckt und herausgegeben. Wer das andere Buch kennt, kann sich darüber freuen, viele lieb gewordene Charaktere wieder anzutreffen, doch er muss sich wie Jean Louise damit abfinden, dass manches liebgewonnene Alte überholt und rückständig ist und manche Veränderungen nicht zum Positiven verlaufen. Die Entthronung von Atticus Finch, ihrem Vater und Helden, erschüttert nicht nur Jean Louise, sondern sicherlich auch manchen Leser. Damit kann er sich dann hoffentlich in ihre Situation einfühlen.