Rezension

Wo die Vernunft endet

Gehe hin, stelle einen Wächter - Harper Lee

Gehe hin, stelle einen Wächter
von Harper Lee

Bewertet mit 3 Sternen

»Jean Louise hatte Mr. O’Hanlon noch nie gesehen und auch noch nie von ihm gehört. Seine einleitenden Worte machten ihr allerdings klar, wer er war – ein ganz normaler, gottesfürchtiger Mann genau wie jeder andere auch, der seine Arbeit aufgegeben hatte, um sich mit ganzen Kräften für die Aufrechterhaltung der Rassentrennung einsetzen zu können.«

Die Hasstirade, die Mr. O’Hanlon da im Bürgerrat von Maycomb von sich gibt, bestürzt Jean Louise. Dass ihr Freund und potentieller künftiger Ehemann still daneben sitzt, schockiert sie. Aber dass ihr Vater, der Rechtsanwalt Atticus Finch, der für sie zeitlebens der beste Mensch auf der Welt war, ebenfalls diesem Bürgerrat angehört – und nicht nur als normales Mitglied, sondern als Vorstand – bringt ihre Welt zum Einsturz.

 

Jeder, der „Wer die Nachtigall stört“ gelesen hat, kennt Scout. Nun, aus der kleinen Scout ist die erwachsene Frau Jean Louise geworden, die mittlerweile 26 Jahre alt ist, fern der Südstaaten in New York lebt und jährlich ein paar Wochen zu Besuch in die alte Heimat reist. Wochen, auf die sie sich immer gefreut hat, die ihr glückliche Kinderzeiten in einer heilen Welt in Erinnerung rufen. Aber in diesem Jahr ist nichts mehr heil…

Die Handlung spielt in der Mitte des 20. Jahrhunderts, das Thema „Aufhebung der Rassentrennung“ ist in aller Munde. Während in New York bereits kleine Fortschritte zu erkennen sind, hat Jean Louise in Maycomb den Eindruck, dass das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß sich drastisch verschlechtert hat. Und auch die Menschen, die sie liebte, die ihr in ihrem Leben Sicherheit gegeben hatten, sind nicht mehr die alten…

»Was war das für ein dunkler Schatten, der die Menschen erfasst hatte, die sie liebte? … Was verwandelte ganz normale Männer in vulgäre Schreihälse, was ließ ihresgleichen verhärten und »Nigger« sagen, wo ihnen das Wort doch vorher nie über die Lippen gekommen war?«

 

Rassismus ist natürlich auch in „Wer die Nachtigall stört“ ein großes Thema, aber während es dort in die übrige Handlung eingebettet wird, dominiert es hier. Während die „Nachtigall“ (die zu meinen absoluten Lieblingsbüchern zählt) mich am Ende mit einem Gefühl der Hoffnung verabschiedet, habe ich nach der Beendigung des „Wächters“ ein Zorngefühl im Bauch.

Natürlich und unbestritten: Rassismus ist und bleibt ein wichtiges – und leider auch ständig aktuelles – Thema. Da braucht auch keiner auf die USA zu schielen, Rassismus funktioniert nicht nur mit Schwarzen und Weißen. Wir Deutschen sollten das wissen. Dieses Thema ist mir ein richtiges Herzensanliegen und ich freue mich eigentlich über jedes Buch, das es aufgreift. Ich bin mir nur nicht sicher, ob die Umsetzung hier so gut ist.

 

Anstatt einfach nur die Tatsachen für sich sprechen zu lassen, wird unglaublich viel diskutiert. Jean Louise ist engagiert und bereit, für ihre Ansichten einzutreten – das ist super und verdient Anerkennung. Manchmal können wir beim Lesen einfach nur ihren Gedankengängen folgen, dann ist alles gut, denn die spielen sich auf der emotionalen Ebene ab und erreichen den Leser direkt…

»Wieso läuft es ihnen nicht kalt den Rücken runter? Wie können sie andächtig alles glauben, was sie in der Kirche hören, und dann sagen, was sie sagen, und sich anhören, was sie sich anhören, ohne dass ihnen schlecht wird?«

Aber über viele Seiten hinweg wird über amerikanische Geschichte gesprochen, über Demokraten und gestrichene Zusatzartikel in Verfassungen. Mal ganz davon abgesehen, dass sicher nicht wenige Menschen hier Personen, Schauplätze und Artikel der amerikanischen Geschichte erst mal nachlesen müssen, drängt sich doch zwangsläufig das Gefühl auf, dass dies alles „weit weg und lang her“ ist und mit einem selber in der heutigen Situation nichts zu tun hat. Und eben das ist ein Irrtum. Zudem sind solche Abschnitte nicht immer leicht zu lesen und verleiten dazu, sie nicht sorgfältig zu lesen.

 

In einem anderen Abschnitt ist mir die Lektüre noch erheblich schwerer gefallen. Dabei ging es darum, dass Jean Louise (ja, sogar sie) ein Problem mit den Reformen in ihrer Kirche hat. Sicher, das sollte wohl verdeutlichen, wie tief in beinah jedem Menschen der Wunsch nach gewissen Inseln der Sicherheit, der alten Gewohnheit, vorliegt. Aber die detaillierten Ausführungen über Methodisten, Baptisten, Presbyterianer, Kirchenlieder, Riten und Prediger fand ich im Umfang schon ermüdend.

 

Versöhnt haben mich die Kapitel, in denen sich Jean Louise an Ereignisse ihrer Kindheit erinnerte. Da war er dann auch, der Charme und das gute Gefühl, das sich bei mir beim Lesen der „Nachtigall“ regelmäßig einstellt. Auch die erwachsene Scout kann Sätze sagen, die so einfach und so klar sind, dass sie direkt ans Herz gehen…

»Ich dachte, wir wären einfach bloß Menschen.«

An anderer Stelle enttäuscht sie mich leider, denn auch sie scheint es als gegeben und geradezu normal hinzunehmen, dass den „Schwarzen“ ein niedriges Bildungsniveau attestiert wird. Hier verpasst sie (und damit das Buch) die Chance, auf den Wert einer vernünftigen Schulbildung und das Recht darauf hinzuweisen.

 

Fazit: Vom Grundansatz her ein gutes Buch, das gerade in der heutigen Zeit deutlich machen kann, dass sich „die armen Südstaatler“, die mittels ihrer Bürgerräte sich „lediglich zu verteidigen suchten“, nicht von den „besorgten Bürgern“ unserer Zeit unterscheiden. Allerdings habe ich meine Zweifel, dass das Buch die Menschen, die es erreichen müsste, auch tatsächlich ansprechen kann. Die sehr viel einfachere, emotionale Art der „Nachtigall“ kann den Wächter im Menschen, sein Gewissen, sicher leichter ansprechen.

 

»Aber die weißen Rassisten fürchten die Vernunft, weil sie wissen, kühle Vernunft ist stärker als sie. Vorurteile, ein schmutziges Wort, und Glaube, ein sauberes, haben etwas gemein: Sie fangen beide da an, wo die Vernunft endet.«