Rezension

Auf der Suche

Seinetwegen -

Seinetwegen
von Zora del Buono

Bewertet mit 5 Sternen

Zora del Buono war gerade mal acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Der 33jährige Mann, aus dem Süden Italiens stammend, war ein beliebter Oberarzt am Kantonsspital Zürich. 
Zora lebt von nun gemeinsam mit ihrer Mutter; diese wird nie wieder heiraten. Den Vater, den sie eigentlich nicht gekannt hat, vermisst sie nicht. Doch eine Leerstelle bleibt und v.a. spürt sie den Verlust, den ihre Mutter erlitten hat. 
In der Grundschule ist sie das einzige Kind ohne Vater, zu jener Zeit, Anfang der 1970er Jahre, eine Seltenheit ( anders als in Deutschland kurz nach Kriegsende, anders auch als heute, wie die Autorin anmerkt).
In den Ferien geht es zur Großmutter nach Italien. Denjenigen, die wie ich Zora del Buonos letztes Buch gelesen haben, ist diese Matriarchin vertraut. In „ Die Marschallin“ beschreibt die Autorin ausführlich das Leben dieser Frau. Aus Slowenien stammend, führt sie später gemeinsam mit ihrem Mann, einem Radiologe, ein großbürgerliches Leben. Das hindert die glühende Kommunistin aber nicht daran, sich politisch zu engagieren und im Widerstand gegen Mussolini tätig zu werden.
Mittlerweile ist Zora del Buono eine Frau Anfang Sechzig und die Mutter lebt dement in einem Heim. Nun scheint die Zeit gekommen, um Verdrängtes hervorzuholen und sich intensiv mit ihrem Vater und dem Unfall zu beschäftigen. Dabei interessiert sie, wie das Leben des jungen Mannes verlaufen ist, der durch ein gefährliches Überholvermögen schuld war am Tod des Vaters. Lebt er überhaupt noch? Sie beschließt, ihn zu suchen , den „ Töter“. 
So nennt sie ihn, denn „ Unfallverursacher“ klingt ihr zu technisch, verharmlost auch das Ganze und Mörder wäre falsch. 
Doch die Suche nach ihm gestaltet sich schwierig. Anfangs kennt sie nur seine Initialen, E.T., erst ganz spät wird sie seinen ganzen Namen erfahren. Für ihre Recherche bemüht sie Briefe und Dokumente, fährt durch ihre alte Heimat in der Schweiz, besucht dort Archive und trifft auf Menschen, die Ernst Traxler noch persönlich gekannt hatten. Dabei wandelt sich ihr Bild von ihm. Er scheint ein ruhiger und „ leutseliger“ Mensch gewesen zu sein, der sich seiner Schuld bewusst war, deshalb jahrelang auch nicht mehr Auto fuhr. 
Die chronologisch erzählte Recherchearbeit wird dabei immer wieder unterbrochen durch Reflexionen und Erinnerungen der Autorin. So fragt sie sich, was diese Vaterlosigkeit wohl für Auswirkungen auf ihr Ich gehabt haben könnte, legt dazu eine „ Liste der eigenen Deformationen“an. Sicher rührt ihr „ stilles Wundern über intakte Familien“ daher, möglicherweise auch ihr „ Fremdheitsgefühl“ in einer Zweierbeziehung. Dem steht eine Liste mit den Vorzügen und Merkmalen ihres Vaters gegenüber. Einige wenige private Photos aus dem Familienalbum erlauben einen persönlichen Blick in das Familienleben der Autorin.
Aber Zora del Buono geht in ihrem Buch über das Private hinaus. Sie zitiert Statistiken über Verkehrsunfälle ( Anzahl, Ursachen etc.), listet prominente Opfer des Straßenverkehrs auf ( von Albert Camus bis Lady Di ) , verfolgt die Geschichte des VW Käfers ( das Unfallauto) und überlegt, ob eine Nackenstütze wohl ihrem Vater das Leben gerettet hätte.
Dazwischen gesetzt sind immer wiederkehrende „ Kaffeehausgespräche“, in denen die Autorin mit Freunden Fragestellungen diskutiert, die ihre Recherche bei ihr auslösen. 
Diese Collage - Technik sorgt dafür, dass keinerlei Sentimentalität aufkommt. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist „ Seinetwegen“ ein Buch, das lange nachhallt. 
Beim Lesen wird einem auch bewusst, wie schnell sich ein Leben ändern kann und dass es jeden von uns treffen kann. „ Keiner, der im Straßenverkehr stirbt, hat morgens das Haus mit dem Wissen verlassen, dass dies sein letzter Tag sein wird ( und keiner denkt, dass er heute einen Menschen töten wird).“
Das Buch endet versöhnlich. Zora del Buono ist nicht nur ihrem Vater näher gekommen, sondern auch Ernst Traxler. Von ihrem anfänglichen Groll auf ihn, dem Unbekannten, bleibt am Ende die Gewissheit, dass auch sein Leben durch den Unfall beeinträchtigt wurde. 
Eine beeindruckende Verarbeitung und ein in seiner Struktur ungewöhnliches Buch.