Rezension

Porträt einer modernen jüdischen Familie

Juli, August, September -

Juli, August, September
von Olga Grjasnowa

Bewertet mit 4 Sternen

Die 1984 in Baku, Aserbaidschan, geborene Autorin ist eine feste Größe im deutschen Literaturbetrieb. Ihr Debut „ Der Russe ist einer, der Birken liebt“, 2012 erschienen, war ein großer Erfolg und wurde auch von der Kritik gefeiert. Mit elf Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, kam sie mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland. Zur Zeit arbeitet sie als Professorin am Institut für Sprachkunst der Universität Wien. „ Juli, August, September“ ist ihr fünfter Roman.
Lou, die Ich-Erzählerin , lebt mit ihrem zweiten Mann Sergej und ihrer fünfjährigen Tochter Rosa, benannt nach ihrer Großmutter, in Berlin. Sergej ist als gefragter Pianist sehr viel unterwegs und ist er zuhause, muss er üben und ist kaum ansprechbar. Lou fragt sich deshalb zu Recht, ob sie überhaupt noch ein Paar sind. 
Beide sind russisch-stämmige Juden, aber der Glaube spielt in ihrem Alltag kaum eine Rolle. Lou überlegt, ob sie ihrer Tochter nicht mehr von ihrer jüdischen Identität vermitteln sollten. Ihr Mann winkt lachend ab: „ Juden haben keine Wurzeln, Juden haben Beine.“
Aber Lou lässt der Gedanke keine Ruhe. Deshalb ist sie auch bereit, zusammen mit Rosa und ihrer Mutter zum 90. Geburtstag von Großtante Maya nach Gran Canaria zu fliegen. Dort will die israelische Verwandtschaft gemeinsam feiern. Die weit verzweigte Familie ist aus Russland nach Israel ausgewandert. Nur Lou und ihre Mutter leben in Deutschland. Während die Familie in Israel mittlerweile ein gut situiertes Leben führen, muss Lous Mutter mit einer kleinen Rente auskommen, „ denn die Arbeitsjahre der Russlanddeutschen in der Sowjetunion wurden angerechnet, die der Juden nicht.“
Dazu ist es in Israel einfacher, seine jüdische Identität zu leben. Das Aufeinandertreffen auf der Kanarischen Insel ist deshalb nicht unbelastet.
Der größte Streitpunkt aber sind die Geschichten von Maya über ihre Kindheit und Jugend in der Sowjetunion. Denn ihre Erinnerung weicht stark ab von den Erzählungen der verstorbenen Großmutter Rosa. „ Maya war die letzte Zeugin, und sie veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen. …Sie manipulierte die Erinnerung und war doch zugleich die Einzige, die sich überhaupt noch erinnern konnte.“
Um herauszufinden, was wirklich passiert war, reist Lou deshalb nicht mit Mutter und Tochter nach Deutschland zurück, sondern fliegt nach Israel, um dort Antworten zu finden auf ihre Fragen.
Olga Grjasnowa lässt hier eine Frau zu Wort zu kommen, die sich über vieles im Unklaren ist. Ist ihre Ehe noch zu retten? Wann begann die Entfremdung zwischen ihr und ihrem Mann? War die Fehlgeburt, über die Lou nicht hinwegkommen kann, einer der Gründe dafür oder liegt es an Sergejs beruflicher Krise?
Neben diesen ganz privaten Problemen werden aber auch Fragen nach jüdischer Identität aufgegriffen. „ Wir geben uns so viele Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen.“ so resümiert die Protagonistin. 
Daneben erfahren wir vom Aufwachsen einer russisch-stämmigen Jüdin in Deutschland. Auf Lou lastet eine große Hypothek, denn ihr Erfolg muss all die Entbehrungen und die Arbeit ihrer Mutter rechtfertigen. „ Ihre Immigration bedeutete, dass sie ihr Leben gegen meine Zukunft eingetauscht hatte, und ich war ihr diese Zukunft schuldig….Also versuchte ich ihr zu beweisen, dass ihr Opfer nicht umsonst war, sei es durch meine Ausbildung, meine Ehe oder meine Karriere.“ 
Berührend ist vor allem das grausame Schicksal von Rosa und Maya, das Olga Grjasnowa in einer kurzen Binnenerzählung darstellt. Auch in der Sowjetunion gab es einen Genozid an den Juden.
Wie der Titel schon andeutet, ist der Roman in drei Teile gegliedert, wobei der erste ( Juli ) in Deutschland spielt, der zweite ( August ) auf Gran Canaria und der letzte ( September) in Israel. 
Die Ich- Perspektive ermöglicht eine eindrückliche Innensicht der Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonistin und dadurch kommt man ihr sehr nahe. Glaubhaft und nachvollziehbar werden ihre Probleme und ihre Ängste beschrieben, ebenso die Fragen, die sie umtreiben. 
Dazwischen gestreut finden sich hin und wieder kurze Bemerkungen zur aktuellen Situation, sowohl in Deutschland als auch in Israel. 
„ Juli, August, September“ ist ein sprachlich überzeugender Roman, der viele Denkanstöße liefert und zugleich ein interessantes Porträt einer modernen jüdischen Familie.