Rezension

Familie und andere Hindernisse

Sommer in Maine - J. Courtney Sullivan

Sommer in Maine
von J. Courtney Sullivan

Bewertet mit 4 Sternen

~~Die 83-jährige Alice Kelleher, verbringt seit fast 60 Jahren die Sommermonate auf dem Familienferiensitz in Cape Neddick in Maine, Neuengland. Das Grundstück hatte ihr Ehemann Daniel damals durch eine Wette gewonnen und dort das Ferienhaus für seine Familie errichtet, welches inzwischen mehrere Millionen Dollar wert ist. Die Sommerferien werden unter der immer größer werdenden Familie durch einen ausgeklügelten Plan aufgeteilt, der festlegt, wann wer das Sommerhaus benutzen darf, zumal zwischen den einzelnen Familienmitgliedern auch reichlich Konfliktpotential herrscht und man nicht unbedingt mehr Zeit als nötig miteinander verbringen will. Bevor die ersten Gäste kommen, räumt Alice entschieden alte Sachen und Erinnerungen weg, um sich vom Ballast zu befreien. Schon bald trifft Enkelin Maggie als Erste aus New York ein, um ihre Wunden zu lecken, denn gerade hat sie sich von ihrem langjährigen Freund getrennt, dabei ist sie schwanger und weiß noch nicht, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. Ann Marie, Alice‘ Schwiegertochter, reist viel früher an, als geplant, um sich um Alice zu kümmern und sich für einen Wettbewerb mit dem Bau eines Puppenhauses zu befassen. Wäre da nicht Maggies Mutter Kathleen, die seit 10 Jahren nicht mehr in Maine war, doch durch die Nachricht ihrer Tochter über deren Schwangerschaft so aus der Bahn geworfen wurde, dass sie kurzerhand Californien den Rücken kehrt und ebenfalls im Sommerhaus auftaucht. Vier Frauen, die sich nicht sonderlich gut verstehen, müssen sich nun auf engstem Raum auseinander setzen, dabei werden viele Dinge aus der Vergangenheit hervorgeholt und Geheimnisse enthüllt, die bisher sorgsam gehütet wurden.
J. Courtney Sullivan hat mit ihrem Buch „Sommer in Maine“ einen Familienroman der besonderen Art vorgelegt. Der Schreibstil ist schön flüssig, dabei sprachlich anspruchsvoll. Die Handlung spielt hauptsächlich in der Gegenwart, erzählt aber auch in vielen Rückblenden von der Vergangenheit, die bis in die Zeit des 2. Weltkrieges zurückreicht. Die einzelnen Kapitel teilen sich unter den Frauen auf, deren Leben und Sichtweise jeweils geschildert wird. Die Charaktere sind sehr vielfältig und detailliert angelegt. Die Frauen könnten nicht unterschiedlicher sein. Alice ist die Patriachin der irisch-amerikanischen Familie, sie wirkt kalt unnahbar und unbarmherzig, wenig sympathisch, aber in seltenen Momenten zeigt sich auch ihre verletzliche Seite, wenn sie an ihre Vergangenheit und ihre „Schuld“ denkt, die ihren Lebensweg praktisch vorgezeichnet hat. Alice ist eine strenge Katholikin, die allerdings auch rassistisch angehaucht ist und mit ihren bissigen Kommentaren oft über das Ziel hinaus schießt. Kathleen hat ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter Alice, weshalb sie sich auch jahrelang nicht mehr in Maine hat blicken lassen. Kathleen ist trockene Alkoholikerin und betreibt mit ihrem Freund eine Würmerfarm für biologischen Dünger. Sie ist eine Chaotin, die mit einem häuslichen Leben nichts am Hut hat. Sie lehnt ihre Mutter dermaßen ab, dass sie grundsätzlich das Gegenteil von Alice macht. Doch ihre Tochter Maggie liegt Kathleen wirklich am Herzen. Ann Marie ist Alice Schwiegertochter. Sie führt eine mustergültige Ehe mit ihrem wohlhabenden Ehemann. Ihre Kinder sind ihre Crux, besonders Sohn David schlägt aus der Bahn. Ann Marie will es allen recht machen, gestattet sich nur im Gedanken eine Liaison mit dem Freund ihres Mannes und stürzt sich in das Bauen von Puppenhäusern, um von ihren geheimen Wünschen abzulenken. Sie ist so sehr bemüht, allen zu gefallen, dass sie regelrecht unterwürfig und unsympathisch daher kommt. Als Leser hofft man immer, dass sie mal aus sich heraus kommt und auf den Tisch haut. Maggie ist der Sympathieträger der ganzen Handlung, abgesehen von Alice‘ Ehemann Daniel – der ist allerdings schon tot. Maggie ist eine unsichere Frau, die Angst vor Verantwortung hat. Sie hat sich mit Freund Gabe einen Mann ausgesucht, der keine Verantwortung tragen will, den sie kontrolliert und damit einengt, weshalb es zum Bruch kommt. Dabei sehnt sie sich nach einer starken Schulter zum Anlehnen, einem Mann, der ihr Entscheidungen abnimmt. Doch erst einmal muss sie lernen, eigene Entscheidungen zu treffen.
Mit „Summer in Maine“ schafft es J. Courtney Sullivan, den Leser einen Platz in einer katholischen irisch-amerikanischen Familie zu verschaffen und hautnah mitzuerleben, welche Geheimnisse die einzelnen Frauen hüten und wie ihr Leben und ihre Entwicklung miteinander zu tun haben. Einzig und allein das Romanende enttäuscht etwas, denn es schließt die Geschichte nicht rund ab, sondern wird zu schnell abgehandelt, was zum Rest des Buches nicht so recht passen will.
Ein toller Urlaubsschmöker der anspruchsvolleren Art, der Freunden von Familiengeschichten besonders gefallen dürfte. Auf jeden Fall eine Leseempfehlung!