Rezension

Perfekter Schmöker!

Elbleuchten -

Elbleuchten
von Miriam Georg

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn ich 1886 in Hamburg gelebt hätte – was hätte ich für eine Freundin wie Lily Karsten gegeben! Lily ist eine junge Frau, die trotz ihrer privilegierten Lage das Herz am rechten Fleck hat und sich auf ihre wohlhabende Familie rein gar nichts einbildet. Mit ihren knapp 20 Jahren ist sie natürlich im besten Alter, um aufzubegehren – was sie anfangs zögerlich, dann aber immer heftiger tut. Aber warum? Warum sollte eine junge Frau - verlobt mit einem gutaussehenden, reichen Mann - ihre Privilegien in Frage stellen?

 

Die Antwort heißt: Jo. Jo ist Johannes Bolten, ein Hafenarbeiter, dem Lily durch Zufall bei einer Schiffstaufe begegnet und der beherzt eingreift, als durch Lilys Schuld bzw. Unüberlegtheit ein anderer Arbeiter verletzt wird. Lily hat starke Schuldgefühle gegenüber dem Verletzten, möchte helfen, weiß aber nicht, wie sie das am besten anstellen soll. Zumal ihre Familie alles tut, um den guten Ruf ihrer Reederei zu wahren und das „unglückliche Ereignis“ zu vertuschen. Jo wird Lilys „Mittelsmann“, der sie unbeschadet durch das berüchtigte Gängeviertel lotst und ihr hilft, ihre Schuld bei der Familie ein Stück weit zu begleichen.

 

Und dann wird Jo mehr für sie. Die wohlerzogene Tochter aus gutem Hause merkt, dass ihre Eltern sie vor vielen Wahrheiten abgeschirmt haben, dass die „wirkliche Welt“ in Hamburg ganz anders aussieht, als sie es mit ihren Teekränzchen und Bällen gewohnt ist. Lilys Ehrgeiz ist gepackt – sie will helfen. Als dann noch an ihrem Lehrerinnenseminar (ein Beruf, den sie wohl nie ausüben wird, da er ihr nach der Heirat verboten wäre) eine neue Mitschülerin auftaucht, die in der Schweiz Medizin studiert hat, werden Lily die Standesunterschiede, Missstände und Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen endgültig klar. Und sie beginnt, Stück für Stück, eine andere zu werden – was weitreichende Folgen für ihre ganze Familie hat.

 

Es ist schwer, die Handlung dieses umfangreichen Romans in eine kurze Zusammenfassung zu pressen, denn er ist trotz seiner Länge sehr temporeich und es passiert unheimlich viel. Das tut dem Lesefluss gut – es wird an keiner Stelle langatmig oder gar langweilig. Ganz im Gegenteil, die Geschichte hat viel Schwung, und später dann viel Dramatik! Der Plot ist gut aufgebaut, die Ereignisse greifen ineinander und lösen eine Kettenreaktion aus, an dessen Ende (zunächst) eine zerrüttete Familie steht. Geschickt platzierte Cliffhanger lassen einen jetzt schon ungeduldig die Fortsetzung erwarten.

 

Und noch einmal kurz zur Figur der Lily, denn sie hat mich sehr fasziniert. Der Autorin gelingt es, eine junge Frau zu erschaffen, die trotz des Settings 1886 unheimlich frisch und modern wirkt, ohne aus der Zeit gefallen zu sein. Schon die Eingangsszene, als Lily sich vertrödelt und (fast) zu spät zur Schiffstaufe kommt, ist so lebhaft geschildert, dass man unwillkürlich mitten hineingezogen wird ins Geschehen. Die Fähigkeit, solche Romanheld*innen zu erschaffen, ist eine Gabe, die außergewöhnlich ist.

 

Deshalb freue ich mich umso mehr, diesen Roman gelesen zu haben – es war eine spannende, unterhaltsame und mitreißende Zeitreise ins alte Hamburg und für mich ein perfekter Schmöker! Ich hibbel wirklich schon sehnsüchtig dem zweiten Teil entgegen – zum Glück ist es bis zum angekündigten Erscheinungstermin im April 2021 nicht mehr so lange hin!