Rezension

2 Schwestern, die den gleichen Mann wollen

Das Haus am Alsterufer - Micaela Jary

Das Haus am Alsterufer
von Micaela Jary

Bewertet mit 5 Sternen

Drei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein können. Ellinor, die Älteste, hilft ihrem Vater in seiner Firma und arbeitet eng mit anderen Frauen in der Frauenbewegung mit. Nele, die mittlere Schwester, lebt und studiert in München Malerei und Lavinia, Livi genannt, erfüllt alle Kriterien, die man einem verwöhnten Prinzesschen zusprechen würde.
Diese redet sich eines Tages ein, in den Architekten Konrad Michaelis verliebt zu sein und kann auch die Hochzeit, die alles andere als standesgemäß ist, durchsetzen.
Nele, die ihren künftigen Schwager per Zufall kennenlernt, ahnt nicht, wen sie vor sich hat und verliebt sich in ihn. Konrad Michaelis, der sich von Livi bedrängt fühlt und Nele ebenfalls liebt, sieht keine andere Möglichkeit, als der Ehe mit Livi zuzustimmen, aber zu welchem Preis...

Was für eine wunderbare Geschichte, war mein erster Gedanke, der mir nach dem Zuklappen des Buches spontan in den Kopf stieg. Mein zweiter ging dahin, dass ich froh war, in einer Zeit zu leben, wo Verbindungen nicht nach gesellschaftlichen Zwängen und Verpflichtungen geschlossen werden.

Micaela Jary, von der ich schon ein paar Bücher gelesen habe, hat sich mit diesem Buch selbst übertroffen.
Sie hat mich gepackt, in die Story förmlich hineingeworfen und erst wieder entlassen, als ich die letzte Seite umgeblättert hatte.

Livi, ein verwöhntes Mädchen aus gutem Haus ist gelangweilt und weiß, welche Knöpfe sie drücken muss, um ihren Willen durchzusetzen. Sie inszeniert einen kleinen Skandal, indem sie am hellichten Tag den verdutzten Architekten Konrad Michaelis auf der Straße ungeniert küsst, der es ihm unmöglich macht, aus dieser ausweglosen Situation herauszukommen, ohne sich beruflich zu schaden. Aber nach der Hochzeit ist auch nicht alles so, wie es sich Livi vorstellt. Plötzlich ist da jemand, der ihr was zu sagen hat und der das auch tut, der eine eigene Meinung aufbringt und es dauert nicht lange und Livi tut die Hochzeit schon leid. Keine Bälle für junge Mädchen mehr und auch kein Getuschel mehr mit Freundinnen, sie ist mit sich und der Welt unzufrieden.
Livi und Konrad gehen bald getrennte Wege, dann bricht der 1. Weltkrieg aus und Konrad meldet sich als Freiwilliger.

Helene, Nele genannt, kommt mit der Situation, Konrad zu lieben, ihn aber nunmehr als Schwager zu haben, nicht klar und wird krank. Sie geht in die Schweiz und versucht, sich dort, abseits ihrer geliebten Malerei, ein neues Leben aufzubauen.

Der Roman beginnt im Jahr 1911 und zeigt eine Zeit auf, in der das Leben nach gesellschaftlichen Zwängen organisiert ist. Victor Dornhain, der verwitwete und recht gut betuchte Reeder mit 3 Töchtern lebt zusammen mit seiner Mutter, die die völlige Kontrolle über das Haus und die Mädels hat. Gesellschaftliche Skandale passieren nur anderen, nie ihnen und so wird auch alles getan, dass Livis "Auserwählter" an der Stange bleibt.
Es ist schon schlimm genug, dass Nele allein und völlig ohne Kontrolle in München lebt und studiert.

Die Autorin Micaela Jary hat ihre Geschichte wieder sehr gut recherchiert, was die historischen Fakten anbelangt, die örtlichen Begebenheiten sowohl in Hamburg und München wie auch in der Schweiz. Die Liebe zum Detail ist zu merken und als Leser findet man sich anhand der Beschreibungen mittendrin wieder. Man hat das Gefühl, man würde alles mit eigenen Augen sehen und miterleben.
Selbst vor den Gräueltaten im Krieg verschließt sie nicht die Augen und zeigt sie auch dem Leser auf. 

Neben der unerfüllten Liebesgeschichte von Nele und Konrad gibt es noch eine weitere Geschichte um das Dienstmädchen Klara. Diese steht eines Tages vor der Tür des Dorhain-Hauses mit einer Empfehlung in der Hand. Nur Victor und seine Mutter wissen, dass es seine uneheliche Tochter ist und geben ihr einen Job als Dienstmädchen. Klara, die nicht weiß, wer ihre Eltern waren, da sie bei einer Pflegemutter aufwuchs, macht sich auf die Suche nach ihrer Mutter.
Diese Geschichte zeigt ein ganz anderes Bild auf, abseits von den Reichen und Schönen. Ein Leben als Dienstmädchen, wo Neid, Klatsch und Tratsch nicht weit voneinander entfernt sind, das man so auch nicht selbst erleben möchte.

Micaela Jary hat einen fesselnden Roman geschrieben vor historischem Hintergrund. Liebe, Leid, Egoismus, Intrigen, Lügen und Krieg sind fest miteinander verwoben und machen das Buch zu einem Schauplatz der Gefühle, nicht nur der Protagonisten, sondern auch der des Lesers.
Ich habe hauptsächlich mit Nele, Konrad und Klara mitgefühlt, gelitten und gehofft, dass alles ein gutes Ende nehmen würde.
Das Buch hat mich so gefesselt, dass die 574 Seiten nur so an mir vorbeigeschnellt sind und ich gern noch ein Weilchen mit den Protagonisten verbracht hätte.

Für dieses Buch gibt es eine klare Kauf- und Leseempfehlung.