Rezension

2020 in einem brandenburgischen Dorf

Über Menschen
von Juli Zeh

Bewertet mit 5 Sternen

Worauf das hinausläuft, das dürfte jedem, der dieses Jahr in Deutschland erlebt hat, klar sein: ein Leben mit Corona. Denn der Zeitpunkt des Geschehens ist von Beginn an völlig klar: Frühjahr und Sommer 2020, die ersten Monate der Covid19-Pandemie. Aber nicht nur: es ist auch ein Leben mit Andersdenkenden, - fühlenden und -kommunizierenden. Das wird Dora gleich bei ihrem Start ins neue Leben im kleinen Örtchen Bracken klar.

Wer meint, dass dies ein mehr oder weniger müder Abklatsch von Zehs Gesellschaftsroman "Unterleuten" ist, ist schief gewickelt. Denn dort stand die Sozialstruktur des gesamten Dorfes Unterleuten im Fokus, es gab so gesehen keine Haupt- oder Nebenfiguren.

Hier jedoch ist es komplett anders: die aus Berlin vor ihrem sich zunehmend zuerst im Greta-Thunberg-Klimaschutz-, dann im Corona-Regel-Einhalte-Nebel verlierenden Gatten aufs Dorf geflohene Dora ist ganz klar die Protagonistin No. 1 , aus deren Perspektive berichtet wird. Ihr Radius in Bracken selbst richtet sich auf die unmittelbare Nachbarschaft, quasi auf die Häuser nebenan, gegenüber und um die Ecken, die - so scheint es zunächst - samt und sonders von Männern bewohnt werden. Dora erkundet das Dorf gemeinsam mit ihrer Hündin Jochen dem Rochen und entdeckt zunehmend eine für sie fremde Welt.

Nebenan wohnt Gottfried,  genannt Gote, der sich Dora direkt als Dorfnazi vorstellt, über einen Schlüssel zu ihrem Haus - früher der Kindergarten des Dorfes  - verfügt. Und - wie sich erst später herausstellt - über eine Tochter namens Franzi, die sich zeitweise bei ihm aufhält und offenbar sehr vernachlässigt wird.

Dann gibt es noch Handwerker Heini und das Paar Tom und Steffen - auch an denen kommt Dora nicht vorbei. Von all diesen Menschen erfährt sie eine absolut selbstverständliche Hilfsbereitschaft, wie sie ihr bisher nie begegnet ist - nicht von ihrem Vater, dem berühmten Gehirnchirurgen aus Münster mit Zweitarbeitsplatz an cer Charité und erst recht nicht von ihrem Bruder Alex, in dessen "Weltbild Menschen dazu da sind, sich um ihn zu kümmern. Besonders Dora." (S.111)

Denn das Dorf hat seine völlig eigenen Regeln, wie auch Dora schnell klar wird: "In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht so leicht über die Menschen erheben." (S.128) Wie selbstverständlich halten die Nachbarn Einzug in ihrer Welt: ein zur Verfügung gestelltes Fahrrad wird von Dora als Leihgabe, nicht als Geschenk verstanden, wodurch sie ihr Gegenüber zutieft beleidigt. Gote spendet jede Menge Möbel und Heini, den Dora flugs in R2D2 umtauft, kommt mit seinen gesamten Gerätschaften zum Anstreichen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Dazu ein Hund und jede Menge Eichelhäher, die sowas wie Doras persönliche Begleiter sind.

Dora ist irritiert, aber sowas von: Was tun, wenn die Grenzen von gut und böse, von anständig und verwerflich auf einmal verschwinden? Wenn es keinen Stempel mehr gibt, den man seinen Mitmenschen aufdrücken kann und dann für immer (oder zumindest für eine Weile) weiß, in welcher Schublade sie sich befinden?

Und nicht nur die Menschen, auch die Tiere werden hier vollkommen neu definiert: "Später steht Franzi vor der Tür und fragt, ob Jochen (der Hund! d.R.)  zum Spielen rauskommen darf." (S.203) Mit Gote erlebt Dora eine Vogelhochzeit der ganz besonderen Art - quasi ein Geschenk von ihm an sie.

Ein Roman mit vielen, vielen Botschaften.  Die wichtigste aus meiner Sicht: Schwarz und weiß gibt es einfach nicht. Da kannst Du solange drauf warten, bis Du schwarz wirst.