Rezension

Am Ende sind wir alle nur Menschen

Über Menschen
von Juli Zeh

Bewertet mit 5 Sternen

2020 - Dora beschließt ihren persönlichen Lockdown und flieht zusammen mit ihrer Hündin Jochen der Rochen aus Berlin hinaus aufs Land. Doch statt ruhiger Landidylle zieht es sie in ihr neu erworbenes Domizil mitten im Nichts nach Bracken in Brandenburg. Sie hofft auf Abstand und Ruhe nach der Enge einer komplizierter werdenden Beziehung, die immer stärker von Klima- und Pandemieaktivismus durchdrungen wird. Doras innere Zerrissenheit will trotz allem nicht zur Ruhe kommen. Erst als die Dorfbewohner mehr Raum in ihrem Leben einnehmen und ihre vorgefertigten Schubladenraster nicht mehr passen wollen, kann sie sich ihren Ängsten stellen und gewinnt eine neue Sicht auf sich und die Menschen. 

Juli Zeh gibt mit Covid 19 nur den Zeitrahmen vor, nicht die Handlung. Es geht um unsere Gegenwart, den Umgang miteinander, das Vergessen von kleinen wunderbaren Dingen, Ängsten und deren Bewältigung und um Stärke im richtigen Moment zu handeln. 

Bracken, ein fiktiver Ort in Brandenburg, ist so beschrieben, wie man sich als Außenstehender ein ostdeutsches Dorf mit schwacher Infrastruktur, Arbeitslosigkeit und desillusionierten, wortkargen Menschen vorstellt. Hier möchte man nicht tot über den Zaun hängen. Aber genau an diesen Ort zieht es die 36-jährige Werbetexterin Dora. Nur weg aus Berlin und aus der Beziehung. Sie stört sich weder an dem maroden Zustand ihrer erworbenen Immobilie, noch an fehlenden Möbeln. Plan- und ahnungslos widmet sie sich ihrem Garten in der Hoffnung, einmal Freunde einladen zu können, sie sie gar nicht besitzt. 

"Inzwischen kennt sie eine Menge Formen von Unruhe, Furcht und Aufregung. Sie hat die verschiedenen Zustände beobachtet, analysiert und katalogisiert. Sie ist eine Archivarin der Nervositäten."

Wer Dinge gerne nach Schwarz und Weiß sortiert, sollte sich auf ein Leseabenteuer gefasst machen. Juli Zeh ist es glaubhaft gelungen, einem "Dorf-Nazi", wie sich Doras Nachbar Gote selbst vorstellt, ein fast schon liebenswertes Profil zu verpassen. Der anfänglich grobe Nachbar, der sich hinter einer Mauer von Doras Grundstück abgrenzt, zeigt mehr und mehr raue, liebenswürdige Facetten. Heimlich wandern Möbel von ihm in Doras Haus, er organisiert einen weiteren Nachbarn, um dem Unkraut den Garaus zu machen. Aber gleichzeitig lernt man seine Vergangenheit kennen: eine Messerattacke, Nazigesänge und offen gezeigte Fremdenfeindlichkeit. Doras anfängliche Abneigung Gote gegenüber bröckelt, weiß sie doch die guten Seiten zu schätzen. Fragen und Ängste türmen sich dennoch in Dora auf. Darf man einfach wegschauen? Sollte man etwas unternehmen?

"Das Gehirn gewöhnt sich an die Vorgaben der Angst, integriert sie ins Denken und verwischt die Spuren. Man leidet nicht unter der Angst, man praktiziert sie."

Vorbei ist es mit der selbst gewählten Einsamkeit, denn das brandenburgische Dorfleben schwappt ungefragt in Doras Leben. Trotz aller Gesellschaftskritik fließt auch eine Welle Humor durch die Handlung. Nachbar Heini schreckt vor keinem zu platten Witz zurück und zwei schräge Unternehmer, die anfangs als Drogenanpflanzer verdächtigt werden, stellen sich als blumensträußchenbindende AfD'ler und Comedian heraus. Zu lange darf man sich aber nicht an den unterhaltsamen Stellen aufhalten. Denn wie so oft im Leben wendet sich das Blatt und die Angst gewinnt wieder die Oberhand.

"Auf der Rückseite dieser Liebe wohnt die Angst, einander zu verlieren. Ebenso grenzenlos, ebenso abgrundtief. Das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann."

Mich hat dieser Roman überraschend in seinen Bann gezogen. Nicht nur die besonders gut herausgearbeiteten Charaktere, sondern auch die politische Grundstimmung dieser Zeit ist deutlich spürbar. Die Handlung regt an vielen Punkten zum Nachdenken und Hinterfragen an und macht deutlich: Es geht hier nicht um Rollen, Schubladen oder Kategorien. Am Ende sind wir alle nur Menschen.