Rezension

Prädikat wertvoll.

Über Menschen
von Juli Zeh

Bewertet mit 5 Sternen

"In Zeiten von George Floyd geht sie mit einem Nazi zum Fest. Es gelingt ihr einfach nicht, eine Haltung zu finden. Vielleicht, denkt Dora, ist das Einnehmen von Haltungen nur so lange richtig und wichtig, wie man die Dinge aus sicherer Distanz betrachtet." (S. 350)

Dora hält ihr Leben in Berlin nicht länger aus. Ihre Beziehung mit Robert, dem fanatischen Weltverbesserer. Die Arbeit in der Agentur, bei der ein Projekt das nächste jagt. Eine Pandemie, die selbst den Rationalsten den letzten Nerv raubt. Das Karussell in ihrem Kopf, das niemals anhält. Die kribbelnden Bläschen, die in ihrem Körper aufsteigen und sie nicht ruhen lassen. Hals über skopf und völlig unvorbereitet flieht Dora mit ihrem Hund Jochen aufs Land, nach Bracken. Ihre Erwartung: Ruhe, Gartenarbeit, Kopfkino aus. Die Realität: Im Nachbarhaus der Dorfnazi Gote, schrullige Persönlichkeiten überall und mehr Zwischenmenschliches, als ihr lieb ist. Wohl oder übel muss Dora sich nun mit Themen auseinandersetzen, die ihr Weltverständnis und ihre Werte auf Herz und Nieren prüfen...

Juli Zehs neuer Roman ist eine Wucht. Er ist so brandaktuell, dass es schmerzt. Unbequem, fordernd, absolut auf dem Punkt. Denn Juli Zeh macht es weder sich, noch ihren Leser:innen leicht. Einfache Antworten gibt es bei ihr nicht. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch. In ihren Romanen menschelt es, hier hat jede:r ein Päckchen zu tragen, keine Begegnung verläuft nach Schema F. Die Figuren sind vielschichtig und komplex und lassen sich nicht in lineare Handlungsmuster stecken.

Meisterhaft verpackt Zeh Situationen und Gefühle in klare, pointierte Gedankengänge und messerscharfe Beobachtungen. Treffsicher skizziert sie das Unwohlsein unserer modernen Gesellschaft aufgrund der sich rasant verändernden Welt, die Überforderung und Hilflosigkeit des Einzelnen hinsichtlich der globalen Zusammenhänge, aber auch scheinbar nichtige Alltagsprobleme. Dazwischen blitzt immer wieder ihr trockener Humor durch, der die Figuren liebevoll auf die Schippe nimmt. Es geht um Rassismus, Idealismus, Gutmenschentum und Mitmenschlichkeit. Es geht um das Finden einer Haltung und eines Standpunktes in einer Welt, deren Gewissheiten sich sukzessive auflösen. Und es geht um den größten Feind, den es zu bekämpfen gilt: die Angst vor der eigenen Courage.

Das ist Gesellschaftsanalyse und -kritik on point. Ein Roman von Juli Zeh ist wie Programmkino - Unterhaltung mit Mehrwert. Prädikat wertvoll.

"Es geht nicht darum, wozu man fähig ist. Es geht auch nicht darum, wer was verdient hat. Nicht einmal darum, für oder gegen Nazis zu sein. Das Zauberwort heißt 'trotzdem'. Trotzdem weitermachen, trotzdem da sein." (S. 340)