Rezension

Abgründiges Familiendrama

Cry Baby - Scharfe Schnitte - Gillian Flynn

Cry Baby - Scharfe Schnitte
von Gillian Flynn

Für mich ist dieses Buch kein Thriller. Düster, morbide, manchmal erschreckend, ja - aber kein Thriller. Und für mich ist das auch ok.

Allerdings würde ich das englische Original empfehlen - nicht, dass die deutsche Übersetzung schlecht wäre, aber im Original entfaltet die Sprache nochmal einen ganz anderen Sog.

Die Spannung liegt weniger in den Mordfällen und deren Aufklärung. Tatsächlich kamen mir diese eher wie ein Aufhänger vor, der Camille dazu zwingt, in ihren Heimatort (scheinbar idyllisch) und zu ihrer Mutter (scheinbar perfekt) zurückzukehren und sich den Dämonen ihrer Kindheit zu stellen. Was mich von Anfang an fasziniert und durch das Buch hinweg bei Stange gehalten hat, sind die Abgründe einer harmonischen Kleinstadt und die Psychologie einer kranken und kaputten Familie, die nach außen hin erscheint wie eine Bilderbuchfamilie.

Bis ganz zum Schluss war ich mir sicher, dass ich ohnehin schon wusste, was passiert ist und warum - und dennoch war es für mich spannend und ich habe die Seiten quasi verschlungen. Allerdings lag ich falsch! Nicht komplett, aber die Auflösung war komplexer, als ich vermutet hatte.

So abgründig, wie es die Geschichte manchmal ist, ist auch die Protagonistin. Camille ist auf jeden Fall keine typische Heldin - ihre Vergangenheit hat Spuren hinterlassen, auf ihrer Haut und ihrer Seele, und sie reagiert auf vieles sehr extrem. Ich fand es manchmal richtig schwer, über ihr selbstzerstörerisches Verhalten zu lesen, wobei sich gerade da zeigt, wie gut die Autorin schreiben kann. Die Wörter, die sich Camille in die Haut ritzt, flüstern und reden zu ihr, und sie bilden einen ständigen unterschwelligen Kommentar zu den Geschehnissen.

Oft habe ich allerdings nur noch den Kopf schütteln können über Camilles Verhalten. Besonders die Beziehung, die sie zu ihrer 13-jährigen Schwester aufbaut, ist alles andere als altersgerecht oder gesund. Allerdings benimmt sich das Mädchen ohnehin weder noch... (Mehr möchte ich hier noch nicht verraten, aber das Verhalten der Schwester und anderer Teenager in diesem Buch ist manchmal sehr verstörend.)

Das soll aber nicht heißen, dass ich Camille als Charakter nicht mochte! Sie ist schwierig, sie ist ein psychisches Wrack, sie ist voller Wut und Selbsthass... Aber sie ist auch glaubhaft, und ich habe mit ihr mitgelitten. Jede schlechte Entscheidung, die sie trifft, jede kaputte Beziehung, die sie eingeht, sind das Resultat von einem Familiengeheimnis, das sie selber erstmal gar nicht realisiert.  

Mehr kann ich hier wirklich nicht sagen, ohne zuviel zu verraten!

Die meisten Charaktere haben ihre Abgründe, sogar die Kinder. Deswegen fand ich es manchmal schwer, eine richtige Beziehung zu ihnen aufzubauen, aber interessant fand ich sie alle. Mir war nach dem Klappentext schon klar, dass das hier kein bequemes Buch sein würde, und es ist manchmal richtig sperrig und schwer zu lesen, aber meiner Meinung nach lohnt es sich!

Hier kommt alles mögliche vor, von Massentierhaltung über Mobbing bis zu Drogenkonsum von Kindern, und das könnte leicht überfrachtet wirken, aber das verhindert der eher karge, oft fast sterile Schreibstil. Was keine Kritik am Schreibstil sein soll - der funktioniert hier tadellos!

Man sollte an dieses Buch nicht mit falschen Erwartungen herangehen - es ist weniger ein Thriller als ein Familiendrama. Darüber muss man sich im Klaren sein. Meiner Meinung nach wird das Buch wirklich falsch vermarktet.

Wer Bücher mag, in denen es um psychologische Probleme und (oft unterschwellige) menschliche Abgründe geht, der liegt mit dem Roman sicher nicht ganz falsch, aber wer einen typischen Thriller mit Hochspannung, Action und blutiger Gewalt sucht, ist hier möglicherweise falsch beraten. Ich fand das Buch einfach großartig, aber man muss sich nur die Kritiken auf Amazon ansehen - viele Thrillerleser fühlten sich betrogen. Deswegen würde ich jedem Leser dringend erstmal die Leseprobe empfehlen!