Rezension

"Alles bewegt sich fort und nichts bleibt" (Platon)

Die Unvollendete - Kate Atkinson

Die Unvollendete
von Kate Atkinson

Bewertet mit 4 Sternen

Ursula Todd wird in einer Winternacht des Jahres 1910 in einem kleinen englischen Dorf geboren. Sie lebt ihr Leben als Teil einer großen Familie mit vier Geschwistern, der erste Weltkrieg kommt und geht, nicht ohne seine Spuren zu hinterlassen und auch der zweite Krieg hat großen Einfluss auf sie, ihre Familie und ihr Leben. Ursula ist kein gewöhnliches Mädchen. Wann immer sie in ihrem Leben einen Fehler begeht, wenn sie beispielsweise im Meer zu ertrinken droht, wenn sie sich mit einer schweren Krankheit ansteckt, wenn sie von einem einstürzenden Gebäude im kriegszerstörten London begraben wird, beginnt sie ihr Leben erneut in dieser Winternacht 1910. An die bereits erlebte Zeit kann sie sich nur bruchstückhaft erinnern, ein Phänomen das ihr als "Dejá-vu" erklärt wird, doch aus diesem Grund ahnt sie bestimmte Begebenheiten voraus und weiß sie so zu verhindern.

Meiner Meinung nach wird dieses Buch über seine äußere Gestaltung und den Klappentext herabgewürdigt. Der Klappentext gibt in keinster Weise wieder, worum es Kate Atkinson eigentlich geht, tatsächlich gibt er sogar Fehlinformation: "Ursula Todd kann ihr Leben wieder und wieder leben und so die Fehler, die sie macht, korrigieren. Sie glaubt, dass sie auf diese Weise das Schicksal für sich und ihre Familie zum Besseren wenden kann. Doch was ist ein perfektes Leben?" Tatsächlich sind Ursulas Neuaunfänge keine bewusste Entscheidung, wann immer sie in eine kritische, lebensbedrohende Situation gerät, springt sie zum Anfang zurück. Dabei sind es nicht immer ihre eigenen Fehler die sie in diese Situationen bringen, viel mehr sind es die Entscheidungen der Personen aus ihrem Umfeld, die sie zu korrigieren versucht. Nach meinem Empfinden geht es nicht um das Streben nach Perfektion, sondern um die schicksalhaften Auswirkungen, die eine einzige, klitzekleine Entscheidung auf das Leben haben kann.

Es mag ermüdend klingen, dass Ursulas Geschichte immer und immer wieder von vorne beginnt, man erneut ihre Jugend erlebt (in der sich womöglich nur ein Detail verändert hat), obwohl man im Kapitel zuvor längst ihr Erwachsenenalter beobachtet hat, doch Atkinson schafft es bemerkenswert gut, immer wieder neue Elemente einzustreuen, neue Details zu erzählen, die sie vorher nicht erwähnt hat. Für ein Buch dieser Struktur gibt es erstaunlich wenig Wiederholungen!

Atkinson ist bekannt für ihre Detailliebe, ihre umfassendn Charakterisierungen und Beschreibungen der Umgebung. Für mich sind die Charaktere während des Lesens sehr lebendig gewesen, trotzdem muss ich sagen,dass mr die Beschreibungen vor allem im zweiten Teil des Buches manchmal  einfach zu viel geworden sind. Nachdem man als Leser die Struktur verinnerlicht hat, bekommt man ein ziemlich gutes Gespür dafür auf welchen Fehler dieser Abschnitt in Ursulas Leben hinauslaufen wird und wünscht sich deshalb eine etwas schnellere, kompaktere Abhandlung der Ereignisse, die man leider nicht bekommt. Sagen wir so: Der Roman hätte nichts verloren, wenn er 100 Seiten kürzer gewesen wäre...

Trotz der ganzen Schicksals- und Lebensthematik ist "Die Unvollendete" nicht zuletzt auch ein Buch über den Krieg, vor allem über den zweiten WK. Interessanterweise erzählt Atkinson auf ihrer Homepage, dass ihr dieser Aspekt beim Schreiben dieses Buches ganz besonders wichtig war: "I was born at the end of 1951 and grew up feeling that had I just missed the Second World War, that something terrible and tremendous had occurred and I would never know it." 

Es lohnt sich wirklich (nach dem Lesen des Buches), Atkinsons Homepage zu besuchen. www.kateatkinson.co.uk  Ich überlege, den Titel noch einmal in der orginalen Version zu lesen. Der englische Titel erscheint mir deutlich treffender als der Deutsche: "Life after life".

Alles in allem ist es nicht leicht für mich ein Urteil zu fällen. "Die Unvollendete" ist auf viele Arten ein interessantes Buch, das tatsächlich auch nachdenklich werden lässt. Wie gesagt, empfand ich die zweite Hälfte des Buches als zu lang und das Ende an sich, könnte man als unbefriedigend empfinden. Atkinsons Stil muss man mögen. Ihre Detailverliebtheit kann anstregend sein, ist aber auch bereichernd für die Atmosphäre. Ich empfehle jedem, der sich noch nicht entschieden hat, ob er dieses Buch lesen will oder nicht, in eine Buchhandlung zu gehen und den Prolog zu lesen, der nur aus zwei Seiten besteht. Schreibstil und Atmopshäre sind darin schon ziemlich leicht erkennbar. :) Viel Spaß dabei!