Rezension

Das wehmutsvolle Lied vom Dorf

Mittagsstunde - Dörte Hansen

Mittagsstunde
von Dörte Hansen

Die ländliche Welt Nordfrieslands in den letzten Jahrzehnten des 20. Jarhunderts löst sich nach und nach auf. Ingwer Feddersen ist einer, der im fiktiven Brinkebüll gross geworden ist. Er ist ein Dorfmensch geblieben, sein Leben aber findet schon lange nicht mehr hier statt. Für ein Jahr kehrt er nach Brinkebüll zurück, um das Wirtepaar zu pflegen, das ihn grossgezogen hat. Gleichzeitig steht er vor der Frage, wer er eigentlich ist und was er in Zukunft tun möchte. Die Rückkehr ins Dorf ist mit vielen Erinnerungen an Menschen und nicht immer nur schöne Zustände verbunden und endet mit der Erkenntnis: «Das Dorf, das Land kam ohne ihn zurecht.» Zweifellos einer der schönsten Romane der letzten Jahre. Humor und Wehmut nah beisammen. Für wen: Genussmenschen

Brinkebüll, in welchem Ingwer Feddersen als Kind eines Dorfwirts aufgewachsen ist, hat sich nach und nach verändert. Erst wurden die Fluren bereinigt, dann fällte man die schattenspendende Dorfallee und teerte die Strasse neu. Der Dorfladen machte dicht, Kleinbauern gaben auf, andere bauten zu Grossbetrieben um. Zuzüger übernahmen, was günstig zu haben war und sich romantisch umdeuten liess. Was trotz Veränderungswut die Zeiten überdauert hatte, betreute jetzt ein Dorfkulturverein: Windkraftanlage neben touristisch aufgewertetem Hünengrab und Klappermühle.

«Man machte sich nicht tot, man war nicht mehr auf Sonne, Wind und Regen angewiesen. Brauchte sich mit der Natur nicht mehr herumzuplagen.» 

Dörte Hansen hat mit Mittagsstunde einen Abgesang aufs dörfliche Leben geschrieben, wie es jene noch erlebt haben, die meines Jahrgangs sind, vielleicht ein wenig älter oder jünger. Das fiktive Dorf Brinkebüll in diesem Roman liegt in Nordfriesland. Man spricht Platt, ausser man möchte es zu etwas bringen, was soviel heisst wie: Man möchte weg. Ingwer Feddersen ist einer der weggeht. Er ist die Hauptfigur in dieser Geschichte. Mit fast fünfzig kehrt er ins Dorf zurück. Er hat noch ein paar Rechnungen mit Sönke offen, der ihn aufgezogen hat und rein gar nichts von «Studierern» hält. Sönke ist mittlerweile alt und gebrechlich, doch noch mindestens so stur, wie er immer gewesen ist. Die Sturheit liegt den Brinkebüllern im Blut. Sie haben ihr Lebtag lang den Kopf eingezogen, wenn der Sturm übers Land fegte und stoisch ertragen, dass er ihre Gesichter und die Landschaft zurechtschliff und ihre Rücken beugte. 

Die Autorin schafft ein lebensnahes Bild eines Dorfes und bevölkert es mit den erstaunlichsten, einsamsten, liebenswerten, boshaften, schrulligsten Figuren. Brinkebüll kommt jedem bekannt vor, der in dörflicher Umgebung aufgewachsen ist, auch wenn er Nordfriesland noch nie gesehen hat. Ob Bayern, Appenzell, Allgäu oder sonst ein ländlicher Landstrich in Europa: Wer auf dem Land gross geworden ist, hat Bäume fallen sehen, Grünflächen, die plötzlich betongrau und teerfarben wurden, Dorfläden, Schulhäuser, kleine Betriebe die entweder vergrössert oder geschlossen wurden, und Landmaschinen, die zu rücksichtslosen Dinosauriern auf Riesenrädern mutierten. Man könnte Dörte Hansens Beschreibung von Brinkebüll durchaus als humorvoll bezeichnen, doch bleibt einem das Lachen oft im Hals stecken. So beschreibt sie beispielsweise recht anschaulich-komisch,­ wie der dörfliche Gasthof zum Westernsaloon umfunktioniert wird. Bonanza in Nordfriesland. So weit weg von der Realität ist das nicht. Jeder kennt mindestens eine schmuddelige Döner-Pizza-Würstchen-Bude, in der früher Hochzeiten und Leichenmahle abgehalten wurden. 

Wirklich eine geniale Idee der Autorin war es, die Titel eine Jukebox-Schlagerauswahl als Kapitelüberschriften zu verwenden. Schlager von «Junge komm bald wieder» bis zu «Wir wollen niemals auseinandergehen» spielen im Buch im Zusammenhang mit Ingwers vermeintlicher Schwester Marret eine wichtige Rolle. Marret übernimmt in diesem Roman die Rolle der Kassandra. Sie ist selbst für Brinkebüller Verhältnisse ein Spezialfall und zu fast nichts zu gebrauchen. Jedem verkündet sie den Weltuntergang, dazu singt und tanzt sie, kennt jeden Schlager. Und das ist das Schöne, aber zuweilen auch kaum zu Ertragende auf dem Dorf: Hier pflegt jeder seine Marrotten. Man nimmt es wahr, lästert ein wenig und geht dann seiner Wege.

Eine wahre Lesefreude sind Hansens Metaphern, die ich so noch nicht gelesen habe: ein Wind der an der Landschaft herumsäbelt, Felder, aus denen Windturbinen wachsen, ein Land, das man mit einer frommen Lüge trösten wollte, Zimmerleute, die rhythmisch wie Geleerentrommler hämmern, um nur einige zu nennen. 

Autorin: Dörte Hansen

Verlag:  Penguin Verlag, 2018, Taschenbuch

ISBN 978-3-328-10634-0, 12.­– Euro/13.25 Franken