Rezension

Feinfühlig, charmant, mit einem einzigartigen Blick auf die Bewohner

Mittagsstunde - Dörte Hansen

Mittagsstunde
von Dörte Hansen

Bewertet mit 5 Sternen

Schon Hansens erstes Buch "Altes Land" hat mich vollkommen begeistert und über die Ankündigung eines neuen Buches war ich überglücklich. Und ich bin nicht enttäuscht worden, denn "Mittagsstunde" hat mich genauso gefangen genommen.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Familie Feddersen. Der Familie gehört der örtliche Gasthof, welcher ein zentraler und beliebter Mittelpunkt des Ortes ist. Anhand dieser Familie erzählt die Autorin die Geschichte eines ganzen Ortes. Auch wenn die Geschichte in den Erinnerungen der Dorfbewohner noch weiter zurückgeht, so stellt doch die Flugbereinigung und der Besuch der Landvermesser einen zentralen und wichtigen Punkt der Handlung dar. Denn von diesem Punkt an beginnt sich das Dorf zu verändern. Land wird neu verteilt, Grenzen neu gezogen, das Land begradigt, Teiche zugeschüttet, Straßen gezogen, alte Schleichwege geraten in Vergessenheit. Althergebrachtes wird über den Haufen geworfen. Umbruch und Wandel - keine einfache Zeit für die alteingessenen Dorfbewohner, für die die neuen Regelungen nur mäßigen Sinner geben. Ging es denn bisher schlecht?

Doch nicht nur das Land verändert sich, sondern auch die Leute. Die Alteingesessenen werden älter. Durch Krankheit und Tod lichten sich die Reihen der Bauern, die bei Feddersens sonntags zum Frühschoppen kamen. Auch an Ingwers Großaltern macht die Zeit keinen Halt. Großmutter Ella leidet an Demenz, Sönke ist geistig zwar hellwach, dafür aber körperlich sehr gebrechlich. Sönke lässt sein Leben in Brinkebüll noch einmal Revue passieren und so wird die Geschichte des Dorfes erzählt. Von seiner Tochter Marrett "Ünnergang" mit den Klapperlatschen, dem unehelichen Enkelkind. Von Hochzeiten, rauschenden Festen. Einschulungen, Unglücken. Von Zusammenhalt, Stillschweigen, Glück und Arbeit. Vom erwachsenen werden der Kinder bis zur Veränderung der Landwirtschaft.

Es ist die ganze Bandbreite eines Dorfes. Und ich, selbst ein Dorfkind, habe mich in vielen Punkten wiedergefunden. Dörte Hansen beschreibt die eingeschworene Gemeinschaft der Dörfler und ihre Eigenarten auf so eindrückliche Art und Weise, dass ich das Gefühl habe mitten in diesem Ort zu sein. Dabei macht sie keine überflüssigen Worte und hochverschnörkelten langen Sätze. Ihre Landschaftsbeschreibungen sind so gut gelungen, dass ich das Rauschen der Bäume und die Schreie der Schwalben schon meinte selbst zu hören. Sie erzählt charmant von Schrullen, Macken und lustigen Anekdoten und einfühlsam von den Schicksalsschlägen, die einzelne Familien ereilen.

Wie sie über die Demenz von Ella schreibt, ist für mich ein grandioses Meisterstück. Realistisch und so feinfühlig, dass es mir eine Gänsehaut beschert.
Ein ganz wunderbares Buch, dass noch lange nachhallt und für mich eines der Highlights in diesem Jahr ist.