Rezension

"De Welt geiht ünner."

Mittagsstunde - Dörte Hansen

Mittagsstunde
von Dörte Hansen

Bewertet mit 5 Sternen

"De Welt geiht ünner." Diese Botschaft trägt Marret Feddersen, genannt Marret Ünnergang, durch das Dorf. Brinkebüll ist ein typisches nordfriesisches Dorf, wo seit Generationen alles seinen gewohnten Lauf nimmt und jeder jeden kennt. Doch mit der Flurbereinigung in den sechziger Jahren beginnen die Veränderungen. Die alten Kastanien werden gefällt, die Dorfstraße asphaltiert und verbreitert, Pferde durch Maschinen ersetzt. Und irgendwann kommen die Störche nicht mehr und der Fortschritt überrollt die Menschen.
Ingwer Feddersen ist in Brinkebüll groß geworden, hat studiert und ist dann nach Kiel gezogen. Nun kommt er zurück, um sich um seine Großeltern zu kümmern.
"Mittagsstunde" ist ein Roman über das Dorfsterben, über fehlenden Nachwuchs, schließende Schulen und Läden, zerfallende Dorfstrukturen. Es ist aber auch ein Roman über Zusammenhalt, Mitmenschlichkeit und Fürsorge.
Mit den Dorfgemeinschaften verschwindet eine ganze Welt. Traditionen werden bedeutungslos, Wissen über das Land und seine Besonderheiten geht verloren, die Kinder sollen hochdeutsch sprechen. Das ist der Fortschritt und der Fortschritt kommt von außen. Während der Flurbereinigung wird die alte Felderstückelung aufgelöst, die Knicks niedergebaggert, der Weg frei gemacht für Großmaschinen. Wer nicht mitspielt geht unter. Ein Bauer nach dem anderen gibt auf, bis nur noch ein paar Großbauern überlebt haben. Das zieht natürlich Konsequenzen nach sich. Höfe stehen leer und verfallen oder werden von Fremden bezogen, indes nicht mehr bewirtschaftet. Die bringen ihre Kinder aber nicht zur Dorfschule und kaufen auch lieber in den Supermärkten außerhalb ein. Und ja, auch das verbesserte Bildungsangebot beschleunigt das Dorfsterben. Der Nachwuchs zieht in die Welt hinaus, das Dorf ist ihnen zu klein und eng, nur die Alten bleiben zurück.
Wer nun aber denkt, Dörte Hansen hätte ein düsteres und hoffnungsloses Buch über alte Zeiten geschrieben, der irrt. Warm und ein bisschen wehmütig erzählt sie von den vergangenen Zeiten, zeigt aber auch, wie sehr die Dorfgemeinschaften unser heutiges Heimatbedürfnis ansprechen. Feinfühlig wechselt sie zwischen Gestern und Heute, porträtiert gekonnt Land und Leute. Ihre Charaktere sind das Besondere, jeder Einzelne ist einzigartig und so voller Leben, dass es nur schwer vorstellbar ist, dass Brinkebüll und seine Bewohner fiktiv sind, Erfindungen einer Autorin. "Mittagsstunde"zählt für mich definitiv zu den wunderbarsten Neuerscheinungen dieses Jahres. Es ist warmherzig, humorvoll, nachdenklich und lebensnah und ich habe jede Sekunde Lesezeit geliebt.
Ein bißchen Angst hat es mir aber doch auch gemacht. Wir hoffen demnächst in ein reales Brinkebüll zu ziehen, einen Neunhundert-Seelen-Ort direkt an der Nordseeküste. Und werden dort sicherlich erstmal die Zugezogenen sein, die Fremden, die einen der alten Höfe gekauft haben. Aber eines ist sicher: "moin" sagen, das können wir immer und in jedem Fall. Das hätten wir sogar vor der Lektüre dieses Romans gekonnt. Und irgendwie macht mir das dann wieder Hoffnung.