Rezension

Die etwas anderen Märchen

Die Sprache der Dornen - Leigh Bardugo

Die Sprache der Dornen
von Leigh Bardugo

Bewertet mit 5 Sternen

Gleich vorab: Wer auf der Suche nach wattebauschigem (Liebes-) Glück ist, dem sei „Die Sprache der Dornen“ nicht empfohlen. Bardugos Märchen sind anders: Sie sind emanzipiert, düster und wendungsreich. Vor allem aber enden sie niemals, indem ein tapferer, junge Prinz seine schöne Prinzessin in den Sonnenuntergang entführt. Die Guten werden nicht zwangsläufig belohnt, nur weil sie gut sind. Mehr noch: Das ausschließlich Gute gibt es im Grunde gar nicht. Es handelt sich vielmehr um das Menschliche, mit all seinen Facetten, den hellen, wie den dunklen.

Die Geschichtensammlung ist eine Ergänzung zum von Leigh Bardugo erschaffenen Grischa-/Krähen-Universum. Inhaltlich hat sie damit aber nichts gemein und kann daher eigenständig gelesen werden. Gelegentliche, spezielle Bezeichnungen erklären sich aus dem Zusammenhang. Enthalten sind sechs Erzählungen. Zwei von ihnen kannte ich bereits. Sie wurden von Carlsen vor einigen Jahren schon einmal veröffentlicht, „Der allzu kluge Fuchs“ und „Die Hexe von Duwa“. Weitere Titel lauten:

– Ayama und der Dornenwald
– Kleines Messer
– Der Soldatenprinz
– Als das Wasser das Feuer ersang

Man kann sich schwer vorstellen, dass es sich um Arbeiten des 21. Jahrhunderts handelt. Die Sprache ist der alter Grimmscher Werke täuschend ähnlich. Auch die Handlungen beginnen mehrfach auf uns bekannte Weise. Ein armes Mädchen/ein armer Junge muss auf der Suche nach Glück verschiedene Prüfungen bestehen. Hier enden die Ähnlichkeiten dann auch schon:

Leigh Bardugo wendet sich bewusst von der Komposition traditioneller Märchen ab. In ihren Augen enden diese nämlich häufig „unwahr“. Unmögliche Aufgaben seien eine seltsame Art, einen Bräutigam zu suchen, schreibt sie im Nachwort. Und auch das Happy End von Hänsel und Gretel erzeugte bei ihr angesichts der Charakterschwäche des Vaters immer ein starkes Unwohlsein. Entsprechend stellt Bardugo die Regeln neu auf: Ein Happy-End um des Happy-Ends willen ist nicht mehr erklärtes Ziel, Reichtum und Hochzeit schon gar. Stattdessen geht fast immer darum, die (oft geschickt verborgene) Wahrheit zu entdecken und auch das eigene, individuelle Ich.

Die Frage, ob das Buch für Kinder geeignet ist, ist nicht leicht zu beantworten. Ich glaube, einige Geschichten haben eine so verschwommene Moral, dass sie zumindest für jüngere Kinder schwer verständlich sind. Andererseits gibt es gerade für Mädchen fast immer eine tolle Botschaft (Selbstbestimmung!), wenn man nicht gerade an der Vorstellung vom Jungen auf dem weißen Pferd festhalten möchte. Ich hätte meiner Tochter in früheren Jahren (jetzt ist sie zu groß!) „Ayama und der Dornenwald“ und „Kleines Messer“ gerne vorgelesen. Einige andere Geschichten hätten mich – aufgrund der beklemmenden Atmosphäre – zögern lassen. Obwohl der Gewaltaspekt selbst nicht ausgeprägter ist, als in alten Märchenbüchern.

Wie so oft in Anthologien, haben mir nicht alle Geschichten gleichermaßen gut gefallen, eine sogar gar nicht, da sie mir zu langatmig aufgebaut war. Vier von sechs fand ich allerdings so klasse – spannend, überraschend und sprachlich auf den Punkt -, dass die Höchstwertung hochverdient ist.

Auch die liebevolle Gestaltung überzeugt. Optisch ist das Buch ansprechend altertümlich, schillernde Bronze auf düsteren Schwarz-Blau-Tönen. Die großartige Aufmachung setzt sich im Innenteil fort. Alle Seiten werden umrahmt von märchenhaften Details, die im Laufe der jeweiligen Erzählungen zunehmen, bis sie zu einem vollständigen Bild zusammengewachsen sind. So gibt es auf jeder Seite etwas zu entdecken.

Für Fans der Autorin eine wunderbare Zugabe. Und für Märchenliebhaber ein ungewöhnliches, sehr lohnendes Lese-Erlebnis!