Rezension

Die Geister der Vergangenheit

Heimweh - Marc Raabe

Heimweh
von Marc Raabe

Der neue Psychothriller "Heimweh" des Kölner Bestsellerautors Marc Raabe beginnt mit einem düsteren Prolog, der im September 1981 spielt. Ein noch namenloser 13jähriger Junge wird von einem Jugendlichen entführt, der eine Maske trägt. Wenig später wird er in eine Grube geworfen und bei lebendigem Leib begraben.

Noch immer quälen den 45jährigen Jesse Berg Alpträume, noch immer meint er die Erde zu schmecken. Selbst 32 Jahre später quälen ihn die Ereignisse von damals. Heute arbeitet er in Berlin und ist ein erfolgreicher Kinderarzt. Von seiner Ehefrau Sandra, die er damals im Kinderheim Adlershof in Garmisch-Partenkirchen kennengelernt hat, lebt er getrennt. Um die gemeinsame Tochter Isa kümmert er sich liebevoll. Als er eines Abends zu spät zu einem vereinbarten Treffen erscheint, ist Sandra ermordet und Isa entführt worden. Über ihrem Bett steht in roten Druckbuchstaben: Du hast sie nicht verdient. Jule, Sandras beste Freundin, erscheint zufällig zur gleichen Zeit in Sandras Wohnung und vermutet, dass Jesse sie ermordet hat. Da er die Polizei nicht informieren will und Jule misstraut, zwingt er sie, mit nach Garmisch-Partenkirchen zu fahren. Irgendjemand aus seiner Vergangenheit scheint noch eine Rechnung mit ihm offen zu haben. Fast zeitgleich erhält der frühere Heimleiter Artur Messner eine Schachtel mit einer abgetrennten Hand. Er erkennt sie als die seines früheren Schulkameraden Wilbert. Artur, Wilbert, sein Bruder Herman und Sebi Kochl waren Mitte der 50er Jahre Freunde. Doch warum schickt man jetzt Artur Wilberts abgetrennte Hand? Als er dann auch noch einen Anruf bekommt und der Absender des Päckchens nach der Adresse von Jesse fragt, ahnt er, dass ihn die Geister der Vergangenheit einholen werden.

Heimweh verspürt man, wenn man vereinsamt ist, und in der Fremde ist es die Sehnsucht nach der Heimat, nach einem sicheren Hafen, den man in der Kindheit hatte. Der Titel zu Marc Raabes neuem Psychothriller hat jedoch eine vollkommen andere Bedeutung, denn Jesse Berg hat auf keinen Fall Heimweh nach Adlershof. Hier geschah vor vielen Jahren ein schrecklicher Unfall, wenn man ihn als solchen bezeichnen kann, und seitdem fehlt ihm die Erinnerung an die Zeit davor. Niemand hat ihm bis heute erzählt, was wirklich geschehen ist. Er weiß nur, dass er eine Narbe hat, die vielleicht von einem Messerstich, einem Schrauberzieher oder einem Schuss mit einer Armbrust herrührt. Neben anderen Verletzungen hatte er einen Schädelbruch, der zu seiner Amnesie führte.

Es ist eine große Hilfe für den Leser, dass der Autor Datumsangaben zu den einzelnen Kapiteln macht. Das erleichtert die zeitliche Zuordnung der Ereignisse. Die Geschichte wird nämlich auf zwei Zeitebenen erzählt. Zum einen ist der Leser bei Jesse und Artur in der Gegenwart, zum anderen wird die Vergangenheit in dem Heim Adlershof in der Zeit von 1979 bis 1981 erzählt. Dieser Erzählstrang endet mit dem Prolog, der den Leser vor die Frage stellt, wer das Opfer ist und ob es überlebt. Eins ist jetzt schon klar: die Zustände im Heim Adlershof waren nicht idyllisch und geben keinen Anlass zu nostalgischen Gefühlen. Die einzelnen die Vergangenheit betreffenden Abschnitte sind zum besseren Verständnis kursiv gedruckt. Das Besondere an diesem Thriller ist, dass es keine polizeilichen Ermittlungen gibt. Jesse nimmt den Entführungsfall seiner Tochter selbst in die Hand, und sieht sich plötzlich wieder mit der Vergangenheit konfrontiert. Er löst den Fall schließlich, und mit ihm sieht der Leser den Zusammenhang gegenwärtigen Geschehens mit den Ereignissen der Vergangenheit. "Heimweh" ist ein lesenswerter, sehr spannender Psychothriller mit einem für den Leser nicht ganz unerwarteten aber trotzdem hervorragend konstruierten Ende.