Rezension

Die typische Antagonistin - hier eine erschreckend nachvollziehbare Protagonistin

Von ganzem Herzen Emily - Tanya Byrne

Von ganzem Herzen Emily
von Tanya Byrne

Bewertet mit 4 Sternen

Meine Welt war auseinandergebrochen, und ich hatte nichts mehr. Nichts. Alles war auf einmal eine Lüge. Alles.

Das ist der Grund, warum ich sie nicht in mein Herz sehen lassen darf, warum ich alles in Kästchen und hinter Türen versperren muss - weil sie mich nämlich zwingt, über Dinge nachzudenken. Sie bringt mich dazu, über Dinge nachzudenken wie: Wäre ich dann glücklich? Und dreizehn Stunden später sitze ich immer noch da und frage mich: Wäre ich glücklich? Wäre ich glücklich? Wäre ich glücklich? Wäre ich glücklich? Wäre ich glücklich? Wäre ich glücklich?
Solche Dinge halten mich jetzt nachts wach.
Was ich verloren habe.
Der Mensch, der ich jetzt nie mehr sein werde.

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INHALT:
Emily Kolls Leben war perfekt wie ein Leben nur perfekt sein kann - bis es zerbrach, so schlimm zerbrach, dass ihr einziger Gedanke der an Rache ist. Rache an Juliet, dem Mädchen, das sie für all dieses Unglück verantwortlich macht. Stück für Stück nimmt Emily ihr alles, was ihr wichtig ist, und opfert dafür auch ihre eigene Lebensfreude und sogar ihre große Liebe...

MEINE MEINUNG:
Tanya Byrnes "Von ganzem Herzen Emily" ist so ein Roman, der als Thriller erscheint, aber eigentlich etwas ganz anderes ist. Viel mehr geht es im Debüt der Autorin um die Frage, was Rache rechtfertigt - und ob diese nicht nur das Leben desjenigen zerstört, an dem sie verübt wird, sondern auch das des Rächenden. Der Schreibstil ist dabei sehr eindringlich und von Anfang an fesselnd, jugendlich in der Sprache, aber bildhaft und mitreißend in den Beschreibungen, wodurch man sehr schnell in die Geschichte hineinkommt.

Emily ist eine Protagonistin, die die Leserschaft mit Sicherheit zwiegespalten zurücklässt. Einerseits kann man sie verstehen: Ihren Hass, ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit; hat sie doch alles verloren und niemanden mehr. Andererseits mag man sie des Öfteren schütteln, ja, schlagen, weil sie nicht erkennen kann, dass sie sich selbst besonders schadet. So erging es mir persönlich auch mit Juliet, dem Objekt ihrer Rache. Diese ist immer freundlich und besitzt ein gutes Herz - gleichzeitig bemerkt sie ausgerechnet bei Emily nicht, was in ihr vorgeht und zieht dieser ihren Freund Sid oftmals vor, weswegen ich keine Sympathie für sie empfinden konnte.

Sod zeichnete sich für mich dann hauptsächlich durch sein gutes Aussehen aus. Ich konnte zu ihm keine wirkliche Bindung aufbauen, weil er mir in der ersten Hälfte zu sehr auf Juliet konzentriert war und nie ohne sie auftrat. Erst danach lernt man ihn und seine Vergangenheit kennen, die Begeisterung der Mädchen für ihn konnte ich jedoch nicht nachvollziehen. Ansonsten erfährt man noch einiges von Emilys Weggefährten und ihren Mitbewohnerinnen in der Psychatrie, die alle sehr unterschiedlich sind; genauso wie ihre Psychiaterin, die zwar vollständig den Klischees einer solchen entspricht, es jedoch auch immer wieder schafft, das Mädchen zum Nachdenken zu bewegen.

Geschrieben ist die Geschichte sowohl im Jetzt als auch in der Vergangenheit, wobei der Leser, spricht Emily im Präsens, auch direkt angesprochen wird. Interessant ist, dass die Autorin nicht abwechselnd von den zwei Leben des Mädchens erzählt, sondern sich besonders zu Anfang stark auf die jetzige Zeit konzentriert. Denn nur langsam öffnet Emily sich und lässt Erinnerungen zu, und ebenso lange dauert es auch, bis man dem Geheimnis auf die Spur kommt. Dies ist aber aufgrund des einnehmenden Schreibstils, einiger durchaus witziger Gespräche mit den anderen Insassen wie auch der großen Gefühlspalette, die durchlaufen wird, gar nicht langweilig. Im Gegenteil: Die meiste Zeit über ist der Roman unglaublich fesselnd, weil einen die Frage, was genau Emily nun getan hat, nicht mehr loslässt.

Schön ist auch, dass zwar eine Liebesgeschichte vorhanden ist, diese jedoch völlig anders als erwartet vonstatten geht - und auf diese Weise auch komplett ohne Kitsch. Außerdem wird der Leser selbst stark zum Nachdenken gebracht. Es ist klar, dass die Protagonistin etwas Schreckliches getan hat und in ihr eine sehr dunkle Seite schlummert - gleichzeitig kann man sie in vielen Situationen jedoch auch verstehen und fragt sich unwillkürlich, was man denn an ihrer Stelle getan hätte. Bis zur Auflösung wird so die Spannung konstant aufrechterhalten, unter anderem auch durch die emotionale Tiefe, die durch Emily Gedankengänge aufkommt. Schade ist nur, dass die Autorin auf den letzten Seiten plötzlich gehetzt wirkt, als müsse sie das Ganze schnell zu Ende bringen. Und so bleiben, auch wenn die Auflösung insgesamt stimmig ist, einige existenzielle Fragen offen, wodurch der Schluss leider zu knapp und ergebnislos wirkt.

FAZIT:
"Von ganzem Herzen Emily" überzeugt durch eine bedrückende Stimmung rund um das Thema Rache und deren Folgen. Hauptfigur Emily wäre in anderen Romanen wohl die totale Antagonistin, hier jedoch sind ihre Gedankengänge so anschaulich dargestellt, dass man sich zum eigenen Erschrecken des Öfteren mit ihr identifizieren kann. Schade, dass das Ende so wenig geglückt ist, dann wäre ich noch zufriedener gewesen - insgesamt kann ich das Buch aber definitiv empfehlen. 4 Punkte!