Rezension

Ein Trugbild von Schuld

Ich stelle mich schlafend
von Deniz Ohde

Bewertet mit 4.5 Sternen

Vorab sei bemerkt, dass dies mein erster Roman der 1988 in Frankfurt a.M. geborenen Deniz Ohde ist, die mit ihrem Debut "Streulicht" viel Aufmerksamkeit erregte. Die Erwartungen nach einem solchen Erfolg sind hoch, doch ich durfte unvoreingenommen mit diesem Roman dank der freundlichen Unterstützung des Wld-Teams der Mayerschen starten.

Schon das Cover beeindruckte mich durch die statische Vergänglichkeit, die das Spieglebild eines Wohnkomplexes in einer Pfütze zeigt, dessen Ränder aber darauf hindeuten, dass das Wasser verdunstet und nur eine graue Betonfläche zurückbleiben wird. Nicht schön, aber sehr aussagekräftig, denn wir stehen mit der 35jährigen Yasemin vor einem Bauzaun, der eine Brache abgrenzt. Vor kurzem noch stand dort das KlickKlack, eine Kneipe dessen Betreiber Ante Yasemin im Dachgeschoß des Zweigeschössers die Wohnung vermietet hat.

Das KlickKlack befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Vogesenstraße und seinen Hochhäusern. Yasemin wuchs im 6.Stock der Nummer 45 auf, ihre Freundin Immacolata gleich nebenan in der Nummer 47. Yase konnte vom Balkon der elterlichen Wohnung die Nummer 50 sehen. Ganz oben, im 10. Stock, wohnte Vito. Er war cool, aber sie war erst 13, da sprach man noch keine Jungs an. Die streng katholisch erzogene Immacolata aber wusste den Kontakt zwischen den beiden Turteltauben herzustellen. Schwer verknallt richtete sich Yase gleich viel selbsbewusster auf dem Pferd auf, das sie bei einer Therapie für ihren skolioseverkrümmten Rücken ritt. Dabei kam es zum Sturz, Yase zur Kur und ihr Rücken zu einem Korsett. Daraufhin zog sie sich zurück, machte Schluss mit Vito und lebte ihr Leben. Mit 17 trennten sich ihre Eltern und Yase fand wenige Häuser weiter Unterschlupf bei Ante. Auch von dort konnte sie das Haus mit der Nummer 50 sehen. Nach wilden Jahren mit diversen Freunden, fand sie Ruhe und Geborgenheit bei Hermann. Er zog zu ihr ins KlickKlack, ruhig und geduldet lebte er mit ihr zusammen. Bis sie eines Tages im Regen Vito wiedersah und sich wie ein Magnet von ihm angezogen fühlte.

Wie es Vito ergangen ist, weiß sein ehemals bester Freund Sascha am Bauzaun zur Brache Yase zu berichten. Ein Bild von toxischer Egozentrik, von jähzornigen Übersprunghandlungen und von mitmenschlicher Ignoranz zeichnet sich für Vito ab. Der Leser beginnt zu ahnen, dass es für Yasemin ein Lauf am Abgrund mit verbundenen Augen war, als sie mit Hermann abschloss und Vito nach 20 Jahren wieder in ihr Leben ließ. Yase war blind. Blind von Selbstvorwürfen, Situationen, in denen sie sich dem Geschehen ausgesetzt gefühlt hat, hilflos gegenüber dem Tod ihrer Freundin, die die Gesetzte für das Überleben von Frauen in der männlichen Wildnis mißachtet hat. Lydia, die ältere Vertraute in Yasemins Leben, kann ihr Rat und Unterschlupf bieten, doch auch sie ist "nur" eine Frau, nachgebend und freundlich.

Yase spricht selbst aus, was schief lief, wo die Fehler in ihrem Leben waren. Den erhobenen Zeigefinger muss man sich nicht erarbeiten, doch hat dieser Roman in seiner ruhigen Art eine ganz eigene Intensität. Niemand schreit, keine bangen Minuten verstreichen, eigentlich berichten alle nur von Vergangenem, so bleibt Raum für Kontemplation und für all die kleinen Nebenschauplätze, die doch im Kleinen auch uns täglich über den Weg laufen.

Mir hat mein ganz persönliches Debut mit Ohde gefallen. Nicht alle Menschen in Yases Umfeld, zum Beispiel ihre Eltern, haben großen Raum bekommen und so blieb der Fokus auf das Wesentliche erhalten. Es bleibt wichtig, so oft es geht, darauf aufmerksam zu machen, in welche Ecke sich Frauen immer wieder drängen lassen, allein auf der Prämisse ruhend, dass sie passiv, nachgiebig und stets freundlich sein sollten, sonst kommt es zu Störungen im männlichen Selbsverständnis, die manchmal diese unangnehmen Nebenwirkungen haben (das war jetzt Sarkasmus). Zum Glück sind nicht alle so toxisch wie Vito. Ante und Hermann sind freundlichere Beispiele in Yases Leben.

Der Anfang war etwas wirr, so dass ich auf jeden Fall weiterlesen wollte. Das ganze Geschehen klärt sich nämlich, wie beim klassischen Spannungsbogen, erst zum Ende der flott zu bewältigenden 250 Seiten. Deniz Ohde spricht die Feministin in mir an und ich bin gespannt, was sie uns noch bringen wird.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 04. Juni 2024 um 22:01

Oh, erstaunlich! Nach der LR (ich linste hinein) hab ich keine guten Kritiken erwartet. Mit hat Streulicht übrigens so gar nicht gefallen. Aber ruhiger Ton kann sie. Und es ist schön, dass es ein positives Kennenlernen gewesen ist. Bei mir steht die Autorin freilich auf "der Liste".