Rezension

Ein Weckruf

Das Lied des Propheten -

Das Lied des Propheten
von Paul Lynch

Bewertet mit 1.5 Sternen

Das Unheil kommt in Gestalt zweier Männer. Sie stehen eines Abends vor der Tür des Hauses der Familie Stark in Dublin. Die beiden sind Zivilbeamte der neu gegründeten Geheimpolizei und sie wollen Larry Stark sprechen. Der ist als stellvertretender Generalsekretär der Lehrergewerkschaft ins Visier der neuen Regierung geraten. Doch Larry will sich nicht einschüchtern lassen und bereitet mit anderen Mitstreitern eine Großkundgebung gegen die neuesten Restriktionen der Regierung vor. Von dieser Demonstration wird Larry nie mehr heimkommen. Er wird wie Tausende mit ihm verhaftet und verschleppt. Sein weiteres Schicksal bleibt im Dunkeln.
Und Eilish, seine Frau, wird mit den vier Kindern, zwischen 16 und einem halben Jahr alt, alleine zurechtkommen müssen. 
Wir sind in Irland, das sich innerhalb kürzester Zeit in eine Diktatur verwandelt hat. Eine nationalistische Partei, die National Alliance Party
( NAP) hat die Wahl gewonnen. Sie regiert mit Notverordnungen, verfolgt Andersdenkende und besetzt Schaltstellen der Macht mit ihren eigenen Leuten. Bürgerrechte werden außer Kraft gesetzt. Das bewährte Instrumentarium aller Diktaturen wird aufgefahren. 
Wie es dazu kommen konnte, welche Ziele die neue Regierung verfolgt, wird nicht näher erläutert. Darum geht es dem Autor offensichtlich nicht.
Nein, er setzt in dieses Szenarium eine ganz gewöhnliche Frau, jemanden wie Du und ich, und zeigt ganz konkret, wie deren Leben unter den veränderten Bedingungen weitergeht.
Eilish mag anfangs nicht glauben, dass ihr Mann verhaftet wurde. Sie hält es für einen Irrtum, pocht auf ihre Rechte, bis sie begreift, dass das alte Recht nicht mehr gilt. Sie kämpft auf der einen Seite für die Freilassung ihres Mannes und versucht gleichzeitig die Familie zusammenzuhalten. Um die Kinder nicht zu beunruhigen, greift sie zu Lügen und Ausflüchten. Doch lange lässt sich der Schein der Normalität nicht aufrechterhalten. Die Lage spitzt sich dramatisch zu. Die Familie wird schikaniert und steht unter Beobachtung. Eilish verliert ihren Job. Die Schulen werden geschlossen, Lebensmittel werden rationiert. Der älteste Sohn Mark soll zur Armee eingezogen werden. Doch der geht in den Untergrund und schließt sich den Rebellen an. 
Eilishs Schwester in Kanada dringt schon früh auf eine Ausreise. „ …die Geschichte ist eine stumme Liste derer, die nicht wussten, wann sie gehen müssen.“ Doch Eilish kann nicht einfach weggehen. Zu viele Verpflichtungen halten sie zurück. Die Kinder brauchen ihre gewohnte Umgebung, außerdem trägt sie die Verantwortung für ihren zusehends dementer werden Vater, den sie nicht allein lassen kann. Und dann ist ist da immer noch die Hoffnung auf die Rückkehr ihres Mannes.
Als Leser leidet man mit Eilish, aus deren Perspektive wir die Entwicklung verfolgen. Wir hadern mit ihrem Zögern und ihren Entscheidungen und fragen uns gleichzeitig, wie wir in einer vergleichbaren Situation handeln würden.
Es muss noch einiges passieren, bis Eilish sich durchringen kann, das Land zu verlassen. Doch auf legalem Weg ist das nicht mehr möglich, die Grenzen sind dicht. Der Roman endet am Meer, dort, wo aktuell so viele aufbrechen in eine bessere Zukunft. 

Dass der Autor das Geschehen ganz konkret in Irland verortet, nicht in einem weit entfernten Land oder in einer fernen Zukunft, macht die Geschichte so beklemmend. Damit macht Lynch deutlich, dass so eine Entwicklung jederzeit und überall passieren kann. Und wie wichtig es ist, die Zeichen der Zeit frühzeitig zu erkennen und richtig zu deuten. Im Grunde beschreibt Lynch nichts Neues. Beispiele aus der Geschichte und der Gegenwart gibt es zu Genüge. Aber es ist notwendig, sich das immer wieder in Erinnerung zu rufen. Demokratie ist nicht selbstverständlich und für sie muss beständig eingetreten werden. Ein Weckruf an uns alle, damit wir uns nicht denselben Vorwurf machen müssen wie Eilish: „ Dein ganzes Leben lang hast du geschlafen, wir alle haben geschlafen, und jetzt beginnt das große Erwachen.“
Das Buch ist keine leichte Lektüre. Es erfordert die volle Konzentration und sein Stil und die verengte Perspektive erlauben keine Distanz. Lynch unterteilt es zwar in einzelne Kapitel, doch dazwischen gibt es keine Absätze. Die starke Rhythmisierung der Sätze und das durchgehende Präsens ergeben eine Dringlichkeit, der man sich als Leser nicht entziehen kann. Dialoge werden nicht durch Anführungszeichen kenntlich gemacht; wer spricht, oder ob es sich um Gedanken oder Gespräche handelt, wird oft nur durch den Kontext deutlich.
Was den Roman neben seiner Thematik aber so besonders macht, ist seine lyrische Sprache. Lynch findet ausdrucksstarke Bilder, die das Grauen fühlbar machen. Die Bedrohung rückt so dem Leser ganz nahe. Dabei arbeitet er mit Leitmotiven und einer starken Symbolik. 
Gegen Ende lässt der Autor den titelgebenden biblischen Propheten zu Wort kommen: „ …und der Prophet singt nicht vom Ende der Welt, sondern davon,…, dass die Welt immer wieder aufs Neue an einem Ort endet, aber nicht an einem anderen, und dass das Ende der Welt immer ein lokales Ereignis ist, es kommt in dein Land und besucht deine Stadt und klopft an die Tür deines Hauses, und wird für andere nur eine ferne Warnung, ein kurzer Bericht in den Nachrichten, ein Echo von Ereignissen, das in die Folklore eingegangen ist,…“ 

Der irische Autor wurde 2023 für diesen Roman mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Völlig zu Recht, wie ich finde. „ Das Lied des Propheten“ ist ein schmerzhaftes Buch, aber ein wichtiges, ein notwendiges; ein Buch, das nicht nur thematisch überzeugt, sondern v.a. durch seine literarische Umsetzung.