Rezension

Die tägliche blutige Soap Opera im Fernsehen

Das Lied des Propheten -

Das Lied des Propheten
von Paul Lynch

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzmeinung: Düstere Prophetien werden immer angefeindet!

"Die tägliche blutige Soap Opera im Fernsehen sind wir für die übrige Welt geworden", sagt Molly, die halbwüchsige Tochter der Protagonistin Eilish, als sich ihre Heimat in atemberaubender Geschwindigkeit von einer halbwegs funktionierenden Demokratie in einen totalitären Willkürstaat verwandelt mit allem, was dazugehört.
Ihre Nachbarn mit ausländischem Namen sind verschwunden, keiner weiß wohin, vom abgeholten Ehemann keine Spur, der Sohn im sich formierenden Widerstand, von den zu den Nationalisten übergelaufenen Nachbarn gemoppt, in den Shops der Nachbarschaft nicht mehr bedient und vom Straßenmob bedroht – Eilish weiß nicht, wo ihr der Kopf steht. Den Job verloren, kaum fähig, einen dementen Vater noch mitzubetreuen, die Kinder in Panik.

Der Kommentar und das Leseerlebnis: 
Paul Lynch beschreibt in dem Lied des Propheten in vornehmlich dichter Poetik die Reaktionen einer Frau, die es kaum glauben und auch nicht verkraften kann, was um sie herum geschieht. Elish fühlt, „es ist etwas ins Haus gekommen, etwas Dunkles“, als die Beamten an ihre Tür klopften und ihre heile Welt zerstörten. Die Bedrohung ist den ganzen Roman über gegenwärtig und spürbar, grandios ist das geschildert und macht etwas mit mir. Wie schnell alles gehen kann! Und kaum wahrgenommen, ist die Situation erneut umgeschlagen. „Der Stil erlaubt keine Distanz“, schreibt eine Leserin.
Die Zerrissenheit, die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Empfindungen der Protagonistin, sind fast körperlich fühlbar in diesem Roman. Wer kann so ruckzuck realisieren, dass der Tod gewaltsam in die Familie gedrungen ist, wer kann so schnell realisieren, dass es keine Hoffnung mehr gibt und man das Land so schnell wie möglich verlassen muss. Ohne Rücksicht auf Verluste. Eilish fällt dies schwer und sie zögert zu lange, denn sie trauert. Sie kann die Wucht des fröhlichen Frühlings nicht aushalten, “she finds herself, wishing for a stop to spring, for the day‘s decrease, for the trees to go blind again, for the flowers to be taken back into the earth, for the world to be glassed to winter.” Aber die Welt nimmt keine Rücksicht auf ihre Trauer, sie dreht sich weiter.
Paul Lynch schreibt ein Lied, eigentlich eine Saga, nicht unähnlich einer Edda oder einer Odyssee, natürlich literarisch nicht so hochrangig – aber er versucht es und kreiert dafür eine eigene Sprache! Heldenlieder sind naturgemäß blumig. Die vielen innovativen Sprachbilder und Wortspiele, die im englischen Original immer schlüssig wirken, sind in der deutschen Übersetzung manchmal eine zu große Herausforderung gewesen. Und besonders in der Mitte des Romans tue ich mich mit dem opulenten Stil des Autors schwer– mit der Zeit wirkt opulenter Stil monoton und wird anstrengend. Hier hätte ich mir mehr Schlichtheit gewünscht.
Dennoch bleiben genug gelungene Sprachbilder auch im Deutschen übrig, die die gewünschte Wirkung auf mich haben: bedrückend. „Das Lied des Propheten“ ist ein düsteres Lied!
Paul Lynchs Roman ist eine Warnung zur Wachsamkeit, ein prophetisches Wort: so wird es kommen, wenn ihr nicht aufpasst, so wird es kommen, wenn ihr nicht rechtzeitig dagegen steuert! Und überall sehen wir Anzeichen dafür, auch in Deutschland, dass wir in Gefahr sind, unsere Demokratie zu verlieren. Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig. Freilich wirkt so ein Sauerteig in beide Richtungen. Einige wenige Gruppierungen können die Demokratie zu Fall bringen – einige beherzte Wenige können sich dem Verfall jedoch auch entgegenstellen. 

Angesichts des gewaltigen Rechtsrucks in der gesamten Welt ist "Das Lied des Propheten" von Paul Lynch zu Recht der Sieger des letztjährigen Man Booker Prize 2023 geworden.

Fazit: Ein gelungenes Klagelied als Abgesang der Demokratie. Möge es nicht so weit kommen. 

Kategorie: Anspuchsvolle Literatur
Verlag: Klett Cotta, 2024
Sieger: Man Booker Prize 2023

Kommentare

E-möbe kommentierte am 21. August 2024 um 20:36

Des Kaisers neue Kleider ... hach. Schön sind se ja. ;)