Rezension

Eine Ode an die VHS-Kassette

Scharnow - Bela B Felsenheimer

Scharnow
von Bela B Felsenheimer

Bewertet mit 5 Sternen

Felsenheimer ist der festen Überzeugung, dass manche Filme ausschließlich als VHS-Kassetten genießbar sind, vor allem die frühen Splatter- Sex- und Horrorprodukte, die unter digitaluntauglichen Bedingungen gedreht wurden.

Eine hoher Alkoholgehalt im Blut kann diesen Genuss noch steigern, so sieht es zumindest die Wohngemeinschaft "Pakt der Glücklichen" in der nördlichen Siedlung Scharnows, einem kleinen Dorf in Brandenburg. Elsa Karpski, Etagennachbarin und Zeugin der täglichen und nächtlichen Ruhestörungen, ist da ganz anderer Meinung. Das Glück scheint aber heute mit der betagten Dame zu sein. Die Nachbarn haben die Wohnung verlassen und außerdem erwartet sie Besuch von ihrer Enkelin aus Berlin. Was sie nicht ahnt, ist, dass Nami für ihre Omili noch Kuchen und Wein besorgen will. Im Scharnower Kiosk findet Nami keine Alkoholika, dafür aber einen sehr attraktiven jungen Mann. Im gegenüberliegenden Billkauf gibt es das Gesuchte, doch findet dort gerade ein sehr merkwürdiger Überfall statt.

Die kleine Polizeistation ist völlig überfordert. Alle Kräfte wurden in die nahgelegene Kreisstadt Sahsenheim beordert. Dort randaliert ein menschenähnliches Flugobjekt und hält alle zum Narren. Polizeihauptmeister Dietmar Senger ist in Scharnow verblieben und besinnt sich, angesicht eskalierender Ereignisse auf die Reservisten a.D. Jason und Alex Weinbarth, Brüder, die zusammen in der Wohnung ihrer verstorbenen Mutter leben und sich leidenschaftlich hassen.

Das ist nur ein winziger Auszug aus dem reichhaltigen und skurrilen Personal des Romans. Sie sind noch nicht einmal die wichtigsten und die Ereignisse beginnen eigentlich schon mit dem Tod Wassmanns, einem Literaturblogger und Pornogenießer. Die Hauptdarstellerin seines Lieblingspornos sieht seiner Nachbarin Susanne Scharster im 17stöckigen Scharnower "Silo" verdammt ähnlich. Seine Tagträumereien wurden nur von diesem unverlangt eingesandten Buch "Horror Vacui" unterbrochen und etwas Dunkles und Kaltes zieht ihn in den Bann.

Jetzt aber Butter bei "die Fische" und nur keine Angst vor Menschenansammlungen. Felsenheimer gewährt dem verunsicherten Leser eine Dorfansicht mit den wichtigsten Gebäuden und Wohnorten der (meisten) Handlungsträger im aufklappbaren Cover. Zusätzlich leistet ein vorangestelltes Personen- und Sachregister klausurtaugliche Spitzeldienste.

Ich schwöre, dass ich das Buch im nüchternen Zustand gelesen habe. Trotzdem überwätigten mich mindestens zwei Lachflashs, der dritte dann beim Nacherzählen für meine Liebsten. Dabei gibt es wirklich ernste Themen im Buch und sie schleichen sich unvermittelt an. Sie lüpfen kurz den Vorhang aus Klamauk und attestieren dem Buch Absicht und Aussage, eben nur gut versteckt unter wahnwitzigem Humor. Auch sei der empfindliche Leser gewarnt, ein paar Menschen, ein Hund und eine Katze müssen ihr Leben lassen. Ein tröstender Gedanke waren die "Seelenparkplätze" und die alte Eiche, die "dem Jungen" hoffentlich zuverlässige Zufluchtsorte waren.

Eine Weltenlenker-Verschwörungstheorie ist Träger und Auslöser zahlreicher mindfucking Desaster in Scharnow, die die Bewohner in Trab hält und so manche Veränderung bewirkt. Großartiger Spass, eine Breitbandaufzählung sehr irdischer Fehler und hoffnungsfrohe Botschaften machen diesen Roman in meinen Augen zu einem Kultbuch... eben weil es uns alle betrifft. Gut gemacht Herr Felsenheimer!

Kommentare

wandagreen kommentierte am 08. August 2023 um 08:37

Du magst seltsame Bücher, stelle ich immer wieder fest. Ich bin da wesentlich zurückhaltender.

Emswashed kommentierte am 08. August 2023 um 09:09

Die Welt ist zuweilen sehr seltsam, das hat Herr Felsenheimer sehr gut erfasst! Ich mag es, weil es trotz aller Tragik, mich wirklich zum Lachen gebracht hat.