Rezension

Eine sehr gelungene und ruhige Dystopie für Erwachsene

Ein Jahr voller Wunder - Karen Thompson Walker

Ein Jahr voller Wunder
von Karen Thompson Walker

Bewertet mit 5 Sternen

Ein kleiner Einblick:
Es ist Wochenende und die elfjährige Julia sitzt gerade mit ihren Eltern beim Frühstück, als die Nachrichten unheilverkündende Neuigkeiten bringen. Die Erdrotation verlangsamt sich, und das Tag für Tag. Keiner weiß warum und keiner weiß, wie man das stoppen könnte , was man dagegen tun könnte.
Nach diesen Nachrichten ist nichts mehr, wie es mal war. Was sich zuerst langsam heranschleicht, wird doch im Laufe der kommenden Tage, Wochen, Monate zu einer sich immer drastischer aufbauenden Veränderung. Eine Veränderung, die sich auch auf die Gemüter der Menschen niederschlägt. So verliert Julia nach Verkündung dieser Nachrichten ihre beste Freundin und verliebt sich Tage später zum ersten Mal richtig in den gutaussehenden Seth Moreno. Doch wird die Jugendliebe überhaupt Bestand haben? Ihre eigene Familie steuert einem Drama entgegen, denn ihre Mutter kämpft mit einer Drepression und wird panisch, ihr Vater dagegen ist genervt und flüchtet in die Arme von Julias Klavierlehrerin.
Die Verlangsamung ist nicht zu stoppen und alle wissen: es muss weitergehen, es wird weitergehen - aber wie? Und wie lange?
Was wird die Zukunft bringen? Wird es überhaupt eine Zukunft geben? ...

Der Sommer ging zu Ende. Ein neues Schuljahr begann. Die Uhren tickten wie üblich. Sekunden fädelten sich zu Minuten auf. Minuten wuchsen zu Stunden an. Und nichts deutete darauf hin, dass diese Stunden sich nicht weiterhin zu Tagen ansammelten, jeder von derselben, unveränderlichen, allen Menschen bekannten Länge.
Seite 9

Meine Gedanken zu dem Buch:
Eine Weile musste ich nun erst einmal darüber nachdenken, in welches Genre "Ein Jahr voller Wunder" denn nun am besten passt. Ja, es ist in der Tat eine Dystopie, eine Dystopie für Erwachsene, die es vor allem ruhig angehen lässt. Als Besonderheit ist hier zu nennen, dass wir uns nicht, wie es sonst in diesem Genre gerne üblich ist, schon mitten in den dystopischen Verhältnissen befinden, sondern dass wir die Entstehung dieser Zeit direkt miterleben. Und hier konnte das Buch schon ganz groß bei mir punkten! Diese langsame Veränderung, die sich ganz subtil anschleicht - still und leise, fast wie ein Tiger an seine Beute - hat mir wirklich gut gefallen.
Vorneweg sei auch gesagt, dass "Ein Jahr voller Wunder" Karen Thompson Walkers Debütroman ist und allein schon dafür muss ich ein ganz großes Lob aussprechen.
Erzählt wird die Geschichte von der jungen Frau Julia in der Retrospektive. Sie blickt zurück auf den Beginn der "Verlangsamung", wie das Phänomen von allen nur noch genannt wurde, als sie gerade mal gute elf Jahre alt war (ihr zwölfter Geburtstag stand kurz bevor).
Sätze wie "später wussten wir das natürlich besser" und "zu diesem Zeitpunkt war uns das noch nicht klar" verdeutlichen bewusst diesen sehr interessant gewählten Schreibstil.
Wer nicht auf diesen retrospektiven Erzählstil achtet, wird schnell versucht sein, die Protagonistin Julia falsch einzuschätzen, denn ihre Gedanken scheinen zu reif für ein junges pubertierendes Mädchen zu sein. Aber als sie diese Geschichte erzählt, ist sie selbst ja schon über dreiundzwanzig Jahre alt.
Die Erde dreht sich mit jedem Tag immer etwas langsamer. Was bedeutet das für die Menschen, die Tiere, für den Planeten selbst? Tage werden länger, Nächte werden länger, die gewohnte Uhrzeit gerät sozusagen erst einmal aus den Fugen. Und alles schleicht sich langsam an. Erst berichten nur die Nachrichten darüber, aber man kann vor die Türe rennen und in den Himmel sehen - man sieht das drohende Unheil einfach nicht. Noch nicht...
Doch daran, dass die Tage und die Nächte sich bald wie Kaugummi ziehen, merkt man, wieviele Stunden man plötzlich "dazugewonnen" hat. Wer träumte nicht schon mal davon, dass der Tag mehr Stunden hätte, um alles zu schaffen, was man so vorhatte? Sicher jeder. Doch wie sich herausstellt, ist es einfach kein Gewinn, wenn der Tag (und somit natürlich auch die Nacht) mittlerweile mehr als 40 Stunden hat und weiter steigt.

Neue Minuten tauchten überall auf. In jenen Tagen war die Zeit schwerer zu vergeuden. Das Tempo des Lebens verlangsamte sich.
Seite 86

Die Auswirkungen sind fatal. Fatal für die Natur, fatal für die Tiere und auch fatal für die Menschen, die sich unmerklich selbst auch verändern. So führt Panik zur Veränderung der allgemeinen Stimmung, des sozialen Umfeldes. Viele orientieren sich neu, Gruppierungen entstehen, Freundschaften und Ehen zerbrechen mehr denn je, neue Freundschaften tun sich auf. Aber keiner ist mehr so, wie er mal war.
Man darf aber nicht denken, dass hier nun ein Umweltthriller oder gar Ökoroman aufwartet. Nein, das Thema ansich wird toll dargestellt, die logischen Schlussfolgerungen / Veränderungen äußerst interessant und realistisch dargestellt, aber nie wird mit dem Finger auf den Leser gezeigt, so ganz nach dem Motto: "Seht, was ihr mit dem Planeten anrichtet".
Familie, Freundschaft, erste Liebe, zwischenmenschliche Kontakte, Verlust - all das wird wunderbar in der Geschichte eingeflochten, ohne jedoch kitschig zu wirken. Denn Julia, die durch die Veränderungen mehr denn je zum Außenseiter wird, erzählt die Geschehnisse auf eine eher nüchterne Art, die aber wunderbar zu ihrem zurückgezogenen Charakter passt.
Auf die Gestaltung der einzelnen Charaktere werde ich nicht eingehen, denn hier würde ich einfach zu viel verraten, denn genau diese Charaktere werden ja "Opfer" der Verlangsamung. Jeder verändert sich und wie, dass sollte jeder Leser selbst herausfinden.

Die Tage dehnten sich. Eine nach der anderen tröpfelten die Minuten herein - und selbst ein Rinnsal kann sich, wie wir inzwischen begriffen haben, letzten Endes zu einer Flut anstauen.
Seite 192

Kurz & gut - mein persönliches Fazit
Karen Thompson Walkers Debüt "Ein Jahr voller Wunder" war für mich ein kleines Lese-Highlight, wie ich es vorab nicht erwartet hätte. Die Leseprobe sagte mir zu, aber ich konnte daraus noch nicht so recht erahnen, wo mich diese Geschichte hinführen würde. Aber dieses Buch entwickelte sich für mich zum wahren Pageturner und es fiel mir wirklich schwer, es aus der Hand zu legen. Der Retrospektive Erzählstil gefiel mir außerordentlich und ich persönlich liebe es ja, wenn sich Dystopien mit Ruhe aufbauen. Hier wird keine großartige Action geboten, nein, hier wird viel Wert auf die vielen, vielen Veränderungen gelegt, die die Verlangsamung mit sich bringt. Ein tolles "was-wäre-wenn"-Szenario, dass mich von der ersten bis zur letzten Seite fesselte.

© Rezension: 2013, Alexandra(az)
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