Rezension

Gibt es eine zweite Chance?

Ich an meiner Seite - Birgit Birnbacher

Ich an meiner Seite
von Birgit Birnbacher

Wie konnte es nur dazu kommen? Arthur ist schon seit Geburt still, zurückhaltend, intelligent und dabei "pflegeleicht" - wie landet ein junger Mann wie er im Gefängnis? Und wie sieht das Leben nach der Haftstrafe aus - ohne Chance auf Arbeit, Wohnung und Partnerschaft?

Arthurs Leben wird in Episoden geschildert: Wir begleiten ihn ab der Entlassung aus dem Gefängnis und erhalten in zahlreichen Rückblenden einen Eindruck von seinem vorherigen Leben. Der Vater hat die Familie gleich nach seiner Geburt verlassen, die Mutter ist allein mit ihm und seinem älteren Bruder. Mit einem neuen Partner zieht sie ein Palliativzentrum in Andalusien auf, und so wird Arthur in ein fremdes Land versetzt. Die Freundschaft mit Princeton und Milla endet mit einer Katastrophe. Seinen einzigen Halt findet Arthur bei Grazetta, einer todkranken Patientin, einer lebensfrohen ehemaligen Schauspielerin. Ganz allein zurück in Wien gerät Arthur in Not und rutscht wie betäubt in die Kriminalität. 

Die Zeit im Gefängnis verhilft nicht zur Resozialisierung, im Gegenteil erlebt Arthur ein weiteres Trauma. Und nun hat er mit viel Glück für ein Jahr ein Zimmer in einer betreuten Einrichtung und nimmt teil an einem ungewöhnlichen Programm. Er soll sich selbst neu erfinden, diese Optimalfigur spielen und auf diese Art wieder Fuß fassen. Der unkonventionelle Dr. Vogl, genannt Börd, der diesen Ansatz entwickelt hat, pfeift dabei auf wissenschaftliche Standards und korrektes Verhalten. Arthur stellt fest, dass er keine Rolle spielen will, sondern eigentlich sich selbst an seiner Seite braucht. Bei allen persönlichen Fortschritten bleibt aber das Problem bestehen, wovon er leben soll: Niemand gibt einem entlassenen Strafgefangenen eine Chance auf Arbeit, selbst ein unbezahltes Praktikum ist nicht zu finden. Soll er vielleicht doch seinen Lebenslauf etwas aufhübschen oder ist das der erste Schritt in den Betrug?

Das Thema ist aktuell: Wie kann ein Mensch nach einem Fehler wieder Fuß fassen, wo findet er in der heutigen Gesellschaft eine zweite Chance? Die Autorin weiß, wovon sie spricht: Sie ist Soziologin und arbeitet als Sozialarbeiterin, und es gibt eine "reale Vorlage für die Hauptfigur". Die Geschichte ist aber nicht nur lebensnah und realistisch, Birnbacher erzählt literarisch. Immer wieder gibt sie neue Einblicke und lässt dabei doch vieles ungesagt, so dass sich der Leser selbst ein Bild machen kann und muss. Arthur, der blasse Held, wächst mir ans Herz und ich ertappe mich bei eigenen Vorurteilen. Während Arthurs positiver Entwicklung rutscht der schräge Vogel Börd langsam ab. Ernst und Komik wechseln. Und so bin ich fasziniert von den schillernden Persönlichkeiten, von den angedeuteten Brüchen und der schwierigen Situation. Ich wünsche Arthur die Chance auf einen neuen Start und muss mich gleichzeitig fragen, ob ich als Arbeitgeber einem ehemaligen Strafgefangenen eine Chance geben würde und wie ich als Mensch mit Menschen, die auf irgendeine Art nicht der Norm entsprechen, umgehe. Lesenswert!

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2020.