Rezension

Intensive Lebensgeschichte, glaubhaft umgesetzt

Meine dunkle Vanessa - Kate Elizabeth Russell

Meine dunkle Vanessa
von Kate Elizabeth Russell

Bewertet mit 5 Sternen

Das ist mein ganzes Leben gewesen

„Das ist der Preis, überlege ich, wenn man seine Erlebnisse offenlegt, selbst im Gewand erfundener Geschichten – danach ist man für immer abgestempelt. Es definiert einen, ob man will oder nicht.“

Vanessa Wye ist in der Gegenwart eine junge Frau, die an einer Psychotherapie teilnimmt, weil sie ihr junges Leben einfach nicht in den Griff bekommt. Gerade jetzt, wo sich der Mann, mit dem ihr 15-Jähriges Ich eine sexuelle Beziehung unterhalten hat, Selbstmord beging, reißen ihre nie verheilten Wunden wieder auf. Damals hat sie sich auf dem Internat auf ein Verhältnis mit ihrem Englischlehrer eingelassen, der sich nach und nach ihr Vertrauen und ihre Zuneigung erschlichen hat. Und obwohl er damals alles daran gesetzt hat, um ihr Einverständnis für sämtliche Handlungen einzuholen, kann sie ihre Bitterkeit in der Gegenwart nur schwer verstehen. Denn die Opferrolle, beansprucht sie nicht für sich, nicht so wie viele andere, die Jahre später an die Öffentlichkeit gehen, um genau jenen Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, weil er sich sittlich an ihnen vergangen haben soll. Vanessa hat auch noch mit ihm geschlafen, da war sie schon 25 Jahre alt und es ist ihr einfach nicht gelungen, dass alte Leben hinter sich zu lassen. Nach und nach versucht sie den Beweggründen ihrer Seele näher zu kommen, versucht zu ergründen, ob wirklich alle Handlungen in der Vergangenheit auf ihre Motivation zurückzuführen sind, oder ob sich Jacob Strane einfach das genommen hat, was er bevorzugte – ein junges, williges Mädchen auf der Suche nach Liebe und Bestätigung und sie nach seinem Gutdünken formte.

Nachdem ich den Klappentext des Buches gelesen hatte, war mir klar, dass ich die Geschichte um Vanessa und Mr. Strane unbedingt kennenlernen muss, nicht nur, weil sie so viele Parallelen zu meinem eigenen Leben aufzuweisen schien, sondern auch weil die bisherigen Rezensionen für ein empathisches, bewegendes Lesevergnügen werben und darüber hinaus aufzeigen, wie schwierig es zu sein scheint, zwischen der Täter- und Opferrolle eine klare Abgrenzung zu ziehen. Und genau diesen Kern der Geschichte trifft die in Maine geborene Autorin, die 18 Jahre für die Fertigstellung des Romans brauchte, auf den Kopf. Denn es ist ihr auf absolut grandiose Art und Weise gelungen, eben jene Grenzen, aufzuzeigen, die überschritten werden müssen, um tatsächlich von Missbrauch und Abhängigkeit zu sprechen. Gerade die konsequente Ich-Perspektive der Erzählerin macht deutlich, dass Vanessa ihre eigenen Handlungen gerade im Erwachsenenalter hinterfragt, doch da war es längst zu spät, da war jener Mann schon so präsent in ihrem Leben, dass sie einfach kein anderes, normales Leben mehr neben ihm führen konnte.

Besonders erschreckend war für mich das Gefühl, aus dem Jetzt und Heute auf Vanessas Vergangenheit zu blicken, denn als sie 15 Jahre alt war, hat sie ganz anders empfunden und obwohl sie die sexuellen Handlungen zwischen sich und dem Lehrer nicht als beglückend empfand, sich ihm eher aus Zuneigung hingegeben hat, rechtfertigt sie ihr damaliges Verhalten als einen Akt der Liebe. Während sie später immer wieder auf den Gedanken einer möglichen Vergewaltigung kommt und sich rückblickend fragt, ob er sie nicht doch gegen ihren Willen gezwungen hat. Diese differenzierte Betrachtung zwischen dem Gestern und Heute erhöht die Glaubwürdigkeit der Protagonistin immens. Ebenso schockierend sind die Reaktionen der Umwelt, die einerseits nicht näher nachgefragt haben, andererseits die Jugendliche an den Pranger stellten für ein Fehlverhalten der erwachsenen Bezugsperson. Auch die Faszination, die Vanessa für ihren Lehrer empfand, die später fast in Mitleid umschlägt, weil sie ihn immer noch in Schutz nimmt, ist so lebendig und umfassend beschrieben, dass man alles so wie es niedergeschrieben ist, für bare Münze nehmen könnte.

Fazit: Ich bin begeistert und vergebe hochverdiente 5 Lesesterne für diesen Coming-of-Age-Roman, in dem die Autorin eine Story in Worte kleidet, die der meinigen zumindest in den Eckpunkten ähnelt. Sie geht darauf ein, wie so eine Beziehung zwischen Lehrer und Schüler wirkt, wie sich der Altersunterschied im Denken und Handeln manifestiert und sie zeigt, wie leicht junge Mädchen in die Fänge von Männern geraten, die ihre Gelüste auf diese Art und Weise befriedigen möchten. All das schafft sie, ohne mit erhobenem Zeigefinger aufzutreten, weil das Opfer hier nicht schreit und kreischt, sondern in der Stille des eigenen Lebens leidet, was letztlich viel schwerer wiegt und mehr Fragen aufwirft. Die Langzeitkomponente jugendlicher Erfahrungen, die mit der Sichtweise von Erwachsenen in Einklang gebracht werden müssen, sind ein weites, vermintes Feld, dem sich wohl jeder stellen muss, sobald die eigenen Handlungen nicht dem ganz „normalen“ Vergehen dieser Altersstufe entsprechen. Für mich ist Vanessa eine starke Frau, die sich letztlich genau dem stellt, obwohl es sie so sehr schmerzt und all ihre erlernten Verhaltensweisen auf den Kopf stellt: Denn wenn es keine Liebesbeziehung war, was war es dann?