Rezension

Ist es möglich, durch eine Landschaft zu reisen, ohne dadurch verändert zu werden?

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland -

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
von Sarah Brooks

Zauberhafte Reise durch verschiedene Genres: gelungener Mix aus historischem Roman, Thriller & Fantasy!

Als ich von diesem Buch das erste Mal gehört und mir die Umschlagtexte angeschaut habe, habe ich mir nicht so recht vorstellen können, was mich erwartet und zu welchem Genre dieses Buch überhaupt gehört. Jetzt, nach dem Lesen, kann ich sagen: es ist ein in vieler Hinsicht ungewöhnliches Buch, das sich einer klaren Genre-Zuordnung entzieht. 

Wir begleiten eine Gruppe von Menschen bei ihrer Reise auf der transsibirischen Eisenstadt von Peking nach Moskau: etwa das im Zug geborene und aufgewachsene 16-jährige "Zugkind" Zhang Wei Wei, den nach Ruhm und Erkenntnis strebenden Wissenschaftler Henry Grey, die unter verdeckter Identität reisende vermeintliche junge Witwe Maria usw. Die Zugfahrt erleben wir auch tatsächlich abwechselnd durch die Perspektiven dieser verschiedenen Menschen, das macht das Buch noch einmal besonders interessant und hat mir sehr gut gefallen.

Gleich beim ersten Aufklappen des Buches begegnet uns eine detaillierte Skizze des einzigartigen Transsibirien-Express aus dem Jahr 1899, samt Gartenwagen, in dem frische Lebensmittel angebaut werden, Krankenstation, Aussichtswagen, Bibliothek, Salon, Labor des Kartografen und natürlich Schlaf- und Speisewagen sowie Küchen für die erste und dritte Klasse (eine zweite Klasse gibt es in diesem Zug nicht). Das macht gleich Lust aufs Lesen und gibt einen guten Vorgeschmack auf die detailreiche Beschreibung der Fahrt in diesem besonderen Zug... ein Versprechen, das das Buch dann auch sehr gut erfüllt.

Sprachlich und stilistisch zeichnet sich das Buch durch ein hohes Niveau, wunderschöne Sprachbilder, Metaphern und viele liebevoll beschriebene Details aus. Unter diesem Blickwinkel ist es definitiv als anspruchsvollere Literatur einzuordnen. 

Fast auf jeder Seite finden sich Anregungen zum Nachdenken, nicht nur über das Buch selbst, sondern auch über die Welt, in der wir leben, und über tief philosophische Fragen wie die, ob es möglich ist, zu reisen, ohne durch die Reise selbst verändert zu werden, oder ohne durch die Reise die Umgebung, die man durchquert, zu verändern. Steht alles miteinander in Wechselwirkung und wenn ja, wie? Und was ist unsere Verantwortung als Menschen dabei? 

Es geht auch um Unterschiede, Ausgrenzung und Vorurteile, das "Hier" (im Zug") und das "Dort" (das Ödland da draußen, von dem man sich abschotten will und das man fürchtet), aber auch um Freundschaft und Verbundenheit, um die ethischen Grenzen technologischer Entwicklung und wissenschaftlicher Neugierde und vieles mehr. 

Sprachlich besonders schön und inhaltlich neugierig machend und gut auf die kommenden Kapitel einstimmend sind die jeweils den sieben Teilen (die dann noch in kleinere Unterkapitel unterteilt sind) vorangestellten Zitate aus dem fiktiven "Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland", z.B. "Drei Tagesreisen von Peking entfernt erscheint eines der größten Naturwunder am Horizont, flirrend wie eine Fata Morgana in den letzten Strahlen der Abendsonne: der Baikalsee, siebenhundert Kilometer lang und - so heißt es - fast anderthalbtausend Meter tief. Der älteste See der Welt. Über Stunden hinweg fährt der Zug daran entlang. Wenn der Mond aufgeht, verwandelt sich das Wasser in Silber. Es fällt schwer, nicht an die Dunkelheit darunter zu denken und daran, was wohl in den Tiefen, in die das Licht niemals vordringt, leben mag. Ich rate dem vorsichtigen Reisenden, ihn nicht allzu lange zu betrachten." 

Neben den Merkmalen, die gute, gehobene Literatur auszeichnen - und vor dem Hintergrundsetting eines historischen Romans: immerhin befinden wir uns in der Transsibirischen Eisenbahn auf dem Weg von Peking nach Moskau Ende des 19. Jahrhunderts - finden sich im Buch aber auch Elemente von Thriller und Fantasy... damit geht der Inhalt weit über einen rein historischen Roman hinaus. 

Wie man beim Lesen schnell bemerkt, befinden wir uns nicht in einem realistischen Szenario der transsibirischen Eisenbahn zu dieser Zeit, sondern in einer alternativen Realität, in der sich so einiges von den bekannten historischen Tatsachen unterscheidet. 

Das macht das Buch aber auch wiederum ganz besonders spannend und es liest sich leicht und interessant... lädt aber auch dazu ein, bei so einigen Passagen länger zu verweilen oder das Buch mehrmals zu lesen, um sich keine der darin enthaltenen sprachlichen und philosophischen Schätze entgehen zu lassen. 

Es handelt sich um ein tiefgründiges und außergewöhnliches Buch, das sicher noch lange in meinem Herzen nachwirken wird und das ich auch in Zukunft noch öfters zur Hand nehmen möchte, um wieder reinzulesen und mich von den vielfältigen philosophischen Fragen und den wunderschönen Sprachbildern inspirieren zu lassen. 

Ich empfehle das Buch allen, die bereit sind, sich auf ein Buch einzulassen, das neuartig, spannend und genreübergreifend ist und genau durch diese Vielschichtigkeit sehr bereichernd und inspirierend sein kann.