Rezension

Nüchtern und weise

Zur See -

Zur See
von Dörte Hansen

Bewertet mit 5 Sternen

So war es einmal auf Dörte Hansens Insel, die beispielhaft für alle Nordseeinseln steht: Der Mann fuhr „Zur See“, die Frau kümmerte sich um die Feriengäste und zog die Kinder auf. Dass ein Mann an Land blieb – undenkbar. Nur hat sich mittlerweile vieles verändert – nicht zuletzt das Selbstverständnis der Frauen, die es satt haben, allein in der Warteschleife zu leben. Fangquoten, Öko-Aktivisten, Vogelschützer, die „Europa-Schwachmaten“, Air BnB, – das Leben, wie es für die Kapitäne und Fischer der Insel seit jeher funktioniert hat, passt nicht mehr in die heutige Zeit.

Exemplarisch erfahren wir dies durch die Familie Sander, die eine Seefahrer-Tradition von 300 Jahren aufweisen kann. Heute aber geben die Sanders eher ein Zerrbild des Inselideals ab. Hanne hat schon lange keine Feriengäste mehr, sie hat den Anschluss an den modernen Standard verpasst. Ihr Mann, Kapitän Jens Sander, fährt nicht mehr zur See, sondern fristet ein Eremitendasein auf der vorgelagerten Vogelinsel. Der älteste Sohn Ryckmer hat seinen Job verloren und ein Alkoholproblem, der jüngste Sohn Hendrik ist Künstler und völlig verstrahlt, und Tochter Eske sieht nur auf den ersten Blick aus wie eine ganz normale Altenpflegerin. Ergänzt wird das Ensemble durch den Inselpastor Matthias Lehmann, der in einer Glaubenskrise steckt, seit seine Frau auf´s Festland gezogen ist. Alle Figuren, und das ist die große Kunst Dörte Hansens, sind sowohl prototypisch wie auch greifbare Menschen und bis in die Nebenfiguren scharf gezeichnet, mit Ecken, Kanten und Widersprüchen, an denen man sich wunderbar reiben kann. Keine der Figuren dominiert den Roman, jede Figur erweitert die Sicht auf die anderen – das ist höchst kunstvoll konstruiert und sorgt trotz des langsamen Erzähltempos für Spannung.

Hansen hat eine unnachahmliche Art, auf Menschen zu blicken; ohne jede Bissigkeit, mit nachsichtiger Ironie: Auf die Touristen, die die Insel für ihren persönlichen Freizeitpark halten, die Einheimischen, die ihre Insel ausverkaufen und dann die Hotelbauten auf ihren ehemaligen Grundstücken verabscheuen, die „neuen“ Insulaner, die ganz leise die Insel gentrifiziert, aber keineswegs gezähmt haben, weswegen ihre mit viel Geld restaurierten Kapitänshäuser 50 Wochen im Jahr leer stehen. Hand auf´s Herz: Hat nicht jede/r schon mal in Gedanken ein Inselhaus mit Knochenzaun, Reetdach und Kletterrosen bezogen und vom Inselleben geträumt? Hansen zieht uns den Romantikschleier weg, lässt unsere Illusionen platzen wie Seifenblasen - und man nimmt es ihr nicht übel, im Gegenteil.

Mit ihren Figuren erleben wir das wahre Inselleben mit seinem Spagat zwischen Herzlichkeit und Kommerz, mit den Traditionen, die einerseits betrauert, andererseits inszeniert werden, mit dem unscharfen Übergang vom Echten und Wahren zur Touri-Show. So manche/r Einheimische/r, so lernen wir, geht in diesem Spannungsfeld unter.

Das alles in einer dichten, lakonischen Sprache, oft witzig, mit zu Halbsätzen kondensierten klugen und überraschenden Gedanken und Blickwinkeln. Hansens Metaphern und Vergleiche sind so treffend wie originell und machen die Lektüre zum Genuss. Dabei bleibt der Erzählton immer eine Spur hanseatisch-distanziert. Hansen schaut hin, aber sie macht uns nicht zu Voyeuren.

Der Roman endet mit einem Knall, der lange nachhallt und die Gedanken noch einmal um die Insel schickt. Ein großartiges Buch – kurzweilig, nüchtern und weise.