Rezension

Nordseeinselsturmroman

Zur See -

Zur See
von Dörte Hansen

Bewertet mit 5 Sternen

Oh mein Gott! Es war nicht zu erwarten, dass Dörte Hansen einen Schönwetterroman schreibt, das konnte ich nach „Mittagsstunde“ und „Altes Land“ nicht erwarten. Entstanden ist ein Nordseeinselsturmroman.
Von jeder Nordseeinsel etwas und eine schonungslose, oder besser gesagt eine vernichtend offene Charakterstudie der Insulaner (die fast alle vom Tourismus leben). Die Mundwinkel nach oben ziehen geht überhaupt nicht, könnte je jemand sehen, dass es etwas zu lachen geht. Dann schon lieben in stumpfen Fatalismus verfallen, der kann offen zur Schau gestellt werden. Die Insulaner suhlen sich in ihrer schicksalhaften, dumpfen Ausweglosigkeit.

Bereits zu Beginn wird uns die Familie Sander vorgestellt. Ryckmer, einst Seefahrer, degradiert zum „Fährenkapitän“ friert aus Scham und säuft dafür, wird von seiner Mutter Hanne an der Mole abgeholt. Beide schweigen, still wie eine glatte See.
Sukzessive stellt uns Hansen den Rest der Familie und die restlichen Insulaner vor. Vom Leben gezeichnet sind alle, liebes- und kommunikationsunfähig. Schwester Eske, Inselaltenpflegerin, dröhnt sich mit Heavy Metall zu, vom Scheitel bis zur Sohle mit Tattoos bestochen und leidend an unvollendete Liebe zu Freya. Der jüngste, barfüßige Bruder Henrik, verwertet künstlerisch den angeschwemmten Schrott. Vater Jens, weder Vater noch Ehemann, für 20 Jahre in einem Deich-Häuschen „Vogelkönig“. Kehrt zu seiner Frau zurück, na wie schon, kommentarlos und kommunikationsunfähig. Dialoge in Seltenheitsform.
Inselpastor Matthias Lehmann, mit sich und seinem Gott nicht im Reinen, von seiner Frau Katrin verlassen, wobei fraglich, ob die Insel oder ihren Mann.

Das Paradoxe am Norden ist, dass die See für die Insulaner bedrohlich und tödlich ist, für die Inselbesucher aber eine enorme Anziehungskraft besitzen. Und sie spielen mit, Kinderzimmer werden vermietet, sich den Gästen anbiedern, dann abzocken, zum Abschied mit der einen Hand winken, währen die andere geballt in der Hosentasche.

Hansens Anspielungen haben Format: Ein junger Pottwal wird angeschwemmt. Wenn schon die Inselmänner nicht mehr auf einem Walschiff fahren oder zumindest nicht beim Walfang ersaufen, dann kommt der Wal auf die Insel.

„Und alle wissen, dass die See nicht gut oder böse, sondern beides, eine unberechenbare Mutter, die man liebt und fürchtet. Die ihre Kinder wiegt und füttert und mit ihnen spielt und manchmal untertaucht und frisst“ (S. 157).

Dörte Hansen ist eine nicht teilnehmende Beobachterin – auktorial. Erzählt intensiv, greift das unbequeme Thema des sich verändernden Nordens auf.