Rezension

Zeit und Gezeiten

Zur See -

Zur See
von Dörte Hansen

Bewertet mit 5 Sternen

Die See, für manche Sehnsuchtsort, für andere Lebensmittelpunkt und in ihren tiefsten Tiefen immer noch unerforscht. Nur an den Rändern offenbart sie sich. Mit Ebbe und Flut gibt und nimmt sie und die Menschen an ihren Küsten müssen sich arrangieren.

Dörte Hansen schaut sehr genau auf ein nicht näher bezeichnete Insel in der Nordsee und berichtet von seinen Bewohnern. Die Familie Sander, mit ihren Kapitänsvätern und -großvätern und ihrem traditionsreichen, reetgedeckten Kapitänshaus steht hier im Mittelpunkt.
Hanne Sander hat drei erwachsene Kinder, aber nur ihr Ältester, Ryckmer, fuhr zur See, bis er sein Patent verlor und nun mit oft reichlich Alkohol im Blut seine Erlebnisse dort zu verarbeiten sucht. Hanne sorgt dafür, dass er wenigstens den Job als Inselfährmann halbwegs nüchtern erledigt.

Ihre Tochter Eske ist Pflegerin im Inselaltenheim. Dort pflegt sie die letzten echten Inselbewohner und zeichnet ihre verschwindenden Dialekte auf. Die Aufnahmen übergibt sie jedes Jahr, wenn sie im Winter für 4 Wochen die Insel verlässt, einem Sprachenforscher. Eske zieht es aber auch noch aus einem weiteren Grund ans Festland.

Nur Hannes Jüngster, Henrik, scheint mit sich und seiner Welt zufrieden zu sein. Er lebt und arbeitet mit und für die Dinge, die die Flut regelmäßig anschwemmt. Er schraubt und sägt daraus Inselkunst. Er liebt die See und was sie ihm schenkt und die See liebt ihn zurück. Fast über Nacht wird er berühmt für seine Werke, die die Fluten von Inselurlaubern und neureichen Teilzeitbewohnern ihm abkaufen und in ihre Unterkünfte und Vorgärten stellen.

Dörte Hansen belebt ihre Geschichte mit weiteren Gestalten, die so das Bild einer urigen Urlaubsinsel verfestigen. Da ist der Inselpastor, der an seinem Glauben zweifelt, da sind die Fischer, die sich mit EU-Vorgaben abplagen und da ist vor allem Jens Sanders, Hannes Mann, der auf unbeständigem Driftland sitzt und Vögel beobachtet, bis ihm ein "Thronfolger" bewusst werden lässt, dass er menschliche Nähe braucht. Doch seiner Frau kann er sich nach 20 Jahren Trennung nur langsam annähern.

Ein Pottwal ist es, der noch einmal das verschüttete Wissen der Insulaner heraufbeschwört und ihnen das alte, harte Leben ihrer Vorfahren in Erinnerung ruft. Die Knochenzäune am Kapitänshaus waren Zeugen.

Die Gezeitenströme geben und nehmen, die Touristenströme zahlen und zerstören, aber der Zeitstrom ändert gnadenlos, unaufhaltsam und unwiderbringlich. Und die See, die See holt sich, was sie liebt.

Mit wundervollen, treffenden, Emotionen heraufbeschwörenden Sätzen versetzt Hansen ihre Leser auf eine Inselwelt und zeigt Licht und Schatten, Kulissen und ihr knirschendes Gebälk im Zeitenverlauf, wie es an Dreidimensionalität kaum zu übertreffen ist. Auf 250 Seiten sitzt alles geschliffen am rechten Platz und hält doch Raum vor, für Erinnerungen an längst vergangene Kindertage, als auch wir nur Flaschengeister in der Erwachsenenwelt waren, oder der auflandige Seewind unsere Wunden und unseren Kummer weggepustet hat.

Erstaunlich, dass mir die Romane von Dörte Hansen bisher durch die Lappen gegangen sind, aber das wird sich jetzt definitiv ändern. Sie konnte mich rundum begeistern, mit einer verstörenden Strahlkraft. Fast hätte ich meine Koffer gepackt und die Inselfähre gebucht, nun wohlwissend, wie brüchig dieser Rand unserer Welt ist.