Rezension

Paradiesisch

Lost in Fuseta - Gil Ribeiro

Lost in Fuseta
von Gil Ribeiro

Bewertet mit 4.5 Sternen

Vorab: Tolles Buch! Ein spannender Krimi und das weniger wegen des Krimis, sondern viel mehr wegen der Geschichte "hinter" dem Krimi.

Das Cover, der Umschlag, die Kapitelseiten:
Das Cover macht optisch eher den Eindruck eines Urlaubsromans. Es macht Lust auf Meer, Strand, Portugal.
Toll finde ich den optischen Kniff, der es aussehen lässt, als wäre ein Streifen aus dem Cover heraus gerissen. Dieser Streifen zieht sich durch das gesamte Buch und taucht auf jeder Titelseite eines neuen Kapitels auf.
Außerdem finde ich die ausklappbaren Teile des Covers gut. So bekommt man mehr Informationen zum Autor und zum Buch und das trotz Taschenbuch.
Auf der Innenseite dieses Umschlags finden sich außerdem Karten. So kann man sich ein besseres Bild von der Umgebung machen.

Der Inhalt:
September in Fuseta, einem kleinen Fischerdorf an der Ostalgarve. Im Rahmen eines europäischen Austauschprogramms von Europol wird Rui Aviola nach Hamburg geschickt und Leander Lost kommt aus Hamburg an die Algarve.
Leander Lost kommt mit weißem Hemd und schwarzem Anzug am Flughafen an und macht auf den ersten Seiten auch sonst einen eher komischen Eindruck. Er spricht fast perfekt Portugiesisch, was seine portugiesischen Kollegen natürlich erst erfahren, nachdem sie sich etwas unvorteilhaft über ihn geäußert hatten. Vorurteile gegenüber die Deutschen im Allgemeinen gibt es auch nicht zu knapp.
Schon bald klärt sich allerdings auf, warum Leander Lost so eigenartig ist. Er ist Autist und zwar ein Asperger. Er hat ein fotografisches Gedächtnis und stark ausgeprägte analytische Fähigkeiten. Allerdings hat er Schwierigkeiten, Augen, Münder und Nasen zu Gesichtern zusammen zu setzen, Gesichtsausdrücke zu deuten, Ironie oder Humor zu verstehen. Das stiftet einige Verwirrung und führt zu Missverständnissen, aber auch zu Fortschritt bei den Ermittlungen.

Die Charaktere:
Die Geschichte spielt hauptsächlich um Leander Lost, den deutschen Austauschkommissar und seine portugiesischen Kollegen Carlos Esteves und Graciana Rosado. Daneben spielen Gracianas kleine Schwester Soraia, ein aus Spanien eingewanderter Polizist namens Miguel Duarte, sowie der dortige Polizeichef Raul da Silva eine mehr oder minder große Rolle.

Leander Lost ist durch seine Besonderheit ein sehr spezieller Charakter. Es belastet ihn sehr, dass er Ironie und Witze nicht verstehen und die Gefühlsregungen anderer Menschen nur sehr schwer an ihren Gesichtern ablesen kann. Er hat zwar im Laufe der Jahre gelernt, bestimmte Anzeichen in der Mimik gewissen Gefühlen, wie zum Beispiel Wut oder Überraschung, zuzuordnen, aber es fällt ihm nicht so leicht wie uns „normalen“ Menschen, die gelernt haben, das zu interpretieren. Auch mit anderen zwischenmenschichen Gebahren hat er so seine Probleme. Er selbst hat sich mal als „Hund, der Teil einer Wolfsrotte werden will“ (S. 200) bezeichnet. Eine Freundin hatte ihm allerdings später gesagt, er sei „nicht der Hund, der in die Wolfsrotte aufgenommen werden will, [sondern] der Wolf, der nie Teil eines Wolfsrudels werden kann“, denn „der Wolf muss sich seines Andersseins nicht schämen.“ (S. 201).
Ich finde diese Beschreibung ziemlich passend.
Im Laufe der Geschichte macht Lost einige neue Erfahrungen und damit Veränderungen an sich selbst. Zum Beispiel erkennt er auf Seite 320 Ironie bei seinem Gesprächspartner. „Mit einem Mal wurde Losts Gesicht von einem Lächeln dominiert, er beugte sich neugierig zu ihr vor. ‚War das Ironie‘ ‚Natürlich. [...]‘ Er strahlte.“
Diese kleinen Erfolgserlebnisse, wenn er etwas versteht oder sich von anderen in seiner Besonderheit verstanden fühlt, machen ihn sehr sympatisch.

Carlos Esteves und Graciana Rosado stehen ihrem Kollegen im schwarzen Anzug zunächst sehr skeptisch gegenüber und können ihn so gar nicht einschätzen. Ihre Antipatie steigt, als Lost sie bei einem Kollegen anschwärzt, und später bei einem Einsatz, auch gleich am ersten Tag, Carlos Esteves ins Bein schießt.
Nachdem sie von Leander Losts Besonderheit erfahren haben, und Rosado bei Losts Kollegen in Hamburg angerufen hat, finden sie jedoch immer mehr zueinander, versuchen ihre anfängliche Skepsis abzulegen und seine Fähigkeiten zu nutzen.
Ich finde, es spricht sehr für sie, dass sie versuchen, ihn zu verstehen und zu unterstützen, statt ihn einfach zurück zu schicken. Das macht die beiden sehr sympatisch, im Gegensatz zu Losts Hamburger Kollegen, die sich hinter seinem Rücken über ihn lustig machen, wie Rosado bei ihrem Telefonat auf Seite 86 erfährt.
Das Bild, was das auf die deutschen Kollegen wirft, ist allerdings mehr als unvorteilhaft. Ich finde es schade, dass ein Deutscher Autor so wenig von seinen eigenen Landsleuten zu halten scheint. Allerdings hätte Lost wahrscheinlich direkt am ersten Tag wieder zurück gemusst, wenn die deutschen Kollegen sich Rosado gegenüber anders geäußert hätten.

Graciana Rosados kleine Schwester Soraia erkennt als erste die Besonderheit Losts und fühlt sich vom ersten Augenblick an zu ihm hingezogen. Sie klärt ihre Schwester und Esteves dann auch relativ schnell auf, zeigt viel Verständnis und bemüht sich Lost das zu geben, was er braucht. Sie ist sehr einfühlsam und hilft Lost sehr, sich einzuleben.

Kollege Miguel Duarte kommt urpsrünglich aus Spanien und wie man in diesem Roman immer wieder erfährt, sind die Portugiesen nicht gerade in besonderer Freundschaft mit ihren Nachbarn verbunden. Da er nur eine kleinere Rolle spielt, wird sein Charakter nicht so deutlich gezeichnet. Seine Kollegen halten ihn jedoch für auf seinen Vorteil bedacht und hinterhältig. Außerdem kann er als Spanier ja sowieso kaum etwas taugen. So wird argwöhnisch beobachtet und es wird ihm so einiges zugetraut.

Raul das Silva ist auch eine nur wenig charakterisierte Person. Rosada kennt ihn schon seit ihrer Kindheit und ist ihm sehr verbunden. Er ist der Chef, ist mit einer Frau verheiratet, die aus einer vermögenden Familie stammt und scheint ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Untergebenen zu haben. Er bringt ihnen Verständnis entgegen und versucht Wogen zu glätten, wenn es ihm möglich ist.

Beschreibungen, Charakterisierungen, Sprache:
Das Buch lässt sich sehr gut lesen, ist flüssig geschrieben. Der Autor bedient sich einer ziemlich bildhaften Sprache (z.B. Seite 293: „Der enge Feldweg … beschrieb eine weite Schleife, um dann – als kapituliere er vor den Bergen oder der Einöde oder beidem – den Rückzug anzutreten.“). Er beschreibt Landschaften, Gebäude, typische Geräusche, Stimmlage oder Gesichtsausdrücke, Charaktere mit viel Liebe zum Detail, ohne dabei aber detailversessen zu sein.
Häufig bedient er sich der Sicht der Charaktere um etwas zu beschreiben oder neue Informationen zu geben. Zum Beispiel auf Seite 104: „… an dem sich noch zwei leere Holzstühle befanden, deren Sitzflächen und Lehnen abgewetzt waren. Sie waren viel bequemer als sie aussahen, wusste Graciana.“, oder auf Seite 160: „Marisa Veiga, erfuhr Leander, war das Mädchen für alles.“ Somit bindet er neue Informationen angenehm in die Geschichte ein, ohne als der allwissende Erzähler auftreten zu müssen, der uns diese Hintergrundinformationen gibt.
Auf die gleiche Weise vermittelt er uns zum Beispiel auch medizinisches Wissen. Über Asperger erfahren wir, weil Soraia Rosado den Kollegen von der Polizei davon erzählt (Seite 95). Was Osteogenis imperfecata ist, erfahren wir in einem gedanklichen Rückblick Losts, quasi in einem Nebensatz, als er sich an seine Freundin Britta erinnert (Seite 200f). Somit erfahren Unwissende Details, die sie sonst vielleicht erst hätten irgendwo nachschlagen müssen. Dennoch stört es weder den Lesefluss, noch langweilt es Menschen, die diese Details schon kennen.
Sehr witzig fand ich die häufig durch Losts Unfähigkeit, Gefühle und Gesichtsausdrücke zu entschlüsseln, aufkommende unfreiwillige (und damit meine ich natürlich nur für die Charaktere unfreiwillig, nicht vom Autor unbeabsichtigt) Situationskomik. Wenn er zum Beispiel Soraia Rosados gerötete Wangen ob ihrer Zuneigung zu ihm auf ihre gute Durchblutung schiebt oder das Anbieten des „Du“ durch seinen Kollegen Carlos Esteves nicht als solches versteht (Seite 283: „ ‚Ich heiße Carlos Colega.‘ Er bot ihm die Hand an, die Lost schüttelte. ‚Ich weiß, Senhor Esteves‘, sagte er. Er dechiffrierte aus dem Winkel von Augenöffnung, der Frequenz des Lidschlags, der Faltenbildung an Nasenwurzel und Stirn sowie dem Zusammenziehen der Augenbrauen Irritation bei seinem Sitznachbarn, was wiederum Leander verwirrte.“

Meine Meinung:
Wie bereits anfangs geschrieben, finde ich das Buch großartig. Der Krimi ist nicht nur durch seine Handlung spannend. Manch überraschende Wendung ist dann aber doch etwas zu überraschend und nicht immer so ganz nachvollziehbar. Die Charaktere machen das Buch allerdings zu etwas Einzigartigem. Die Schuldigen wurden gefasst, die Guten haben überlebt und das alles innerhalb von sieben Tagen.
Das Austauschprogramm geht jedoch über 12 Monate und „in diesen zwölf Monaten konnte eine Menge passieren, darüber warm man sich in den Bars von Fuseta einig“ (Seite 12). Das lässt auf mehr hoffen und so steht es ja auch auf der Rückseite des Buches, es ist der Start einer Krimireihe. Ich freue mich schon sehr auf eine Fortsetzung.

Eins frage ich mich allerdings. Lost hat in diesem ersten Band, in nur sieben Tagen eine ziemliche Entwicklung durch gemacht. Er hat Ironie erkannt, sogar einen Witz gemacht und ist Teil eines Teams geworden. Er hat in sieben Tagen eine Entwicklung durch gemacht, wie es ihm in all den Jahren bei der Polizei in Deutschland nicht gelungen ist. Das kann nicht nur an der (Gast-)Freundlichkeit der Portugiesen und Soraia Rosados verständnisvoller Art liegen. So schlecht sind wir Deutschen ja nun auch nicht. Und was können wir an Entwicklung jetzt noch von Lost erwarten?

Mein Fazit:
Trotz allem. Das Buch ist absolut lesenswert und ich werde wahrscheinlich auch das nächste Buch aus dieser Reihe verschlingen.