Rezension

Philosophie des Vorbehalts

Der Besuch - Hila Blum

Der Besuch
von Hila Blum

Bewertet mit 4.5 Sternen

Aus Israel habe ich einen tagesaktuellen Roman erwartet. Oder zumindest einen politischen. Oder einen vielschichtigen, gesellschaftskritischen. Niemals einen philosophischen! Doch Hila Blum hat genau das getan, sie hat einen philosophischen Roman geschrieben, nämlich einen über die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des Lebens, die sie anhand von nur wenigen Tagen im Leben der Nili Schoenfeler aufblättert.

Dass der Roman in Jerusalem spielt, in der mörderischen Hitze eines Sommertages, ist ein wenig zufällig und wohl der Herkunft der israelischen Autorin geschuldet, doch es verstärkt natürlich unterschwellig die Unsicherheit des Lebens schlechthin, obwohl das Leben in Israel sonst kaum vorkommt: „Eine Reihe von Terroranschlägen haben die Stadt auf die lebensnotwendigen Funktionen reduziert, sie atmet wie ein Körper mit nur einer Lunge.“

Ihr Haus gerät sehr leicht aus den Fugen“. Dies ist der Schlüsselsatz, der Zugang zu Nili Schoenfeler bietet, von daher erschliesst sich auch der ganze Roman. Schon in der Kindheit gab es eine Reihe von Erschütterungen. Als der Vater die Mutter betrog und die Familie häufig umgezogen ist, wurde die Kontinuität sozialer Beziehungen unmöglich, „ein Freundeskreis ... es war klar, dass diese Möglichkeit für ihr Leben nicht mehr bestand, vom Glauben an lebenslange Freundschaften hörte man nur gerüchteweise.“

Die innige Beziehung zu Nilis kleiner Schwester wird durch eine unheimliche Entführung zerstört, die zwar nur einen Nachmittag lang gedauert hat, aber dennoch ein Trauma hinterließ und in einem Streit lässt Mutter Hanna heraus, dass sie der grossen Tochter Nili dafür die Schuld gibt: „du hast sie allein gelassen, du hast sie im Stich gelassen,“ statt ihr beizustehen in den Schuldgefühlen, die sie vermutlich quälen.

So sind weder Vater noch Mutter emotionale Stützen und es gibt keine Freunde, die Schwester ist ein zerbrechliches Geschöpf, das an einem Trauma leidet, womöglich von ihr verursacht? Kein Wunder, dass Nili später auch mit Männern nicht klar kommt. „Bis sie Nati traf, hatte Nili andere Männer. Die meisten rangen sich nicht zu einer Art von Verbindlichkeit durch.“ Sind Nati und das gemeinsame Kind Asia endlich der sichere Hafen?

Die Liebe sollte meßbar sein, so dass Nili Sicherheit darüber hat, doch „sie ist aalglatt die Liebe.“ Nati macht auch gleich am Anfang ihrer Beziehung einen Riesenfehler, einen albtraumhaften Fehler, einen in der Art wie in dem Traum, man stünde plötzlich nackt in der Ubahn und alle glotzen. Überdies bringt Nati Altlasten mit in die Ehe, nämlich Dida, seine Tochter mit Miep. Mit Dida, die zu ihnen zieht und sie zu einer Patchworkfamilie macht, wird Nili nie richtig warm, denn sie glaubt, der Schlüssel zu Didas Innenleben sei bei deren Mutter Miep geblieben.

Und ebenfalls gleich zu Anfang gibt es die mysteriöse Warnung eines Fremden vor ihrer Ehe. Darum traut sich Nili nicht, sich fallen zu lassen, weder in die Beziehung noch in das Leben. Sie ist immer auf der Hut. Und ihre Erfahrungen scheinen ihr auch recht zu geben.

Asia ist entzückend, doch als Eltern hat man niemals frei, ewig ist man an seine Ängste um das Wohlergehen des eigenen Fleisch und Bluts gebunden und auch Nati hat seine Geheimnisse und Unzuverlässigkeiten. Was soll man tun. Wegschauen?

Die Sprache, die Hila Blum verwendet, beinhaltet viele kluge Beobachtungen, sie regen den Leser an, eigene Gedanken über das Leben zu entwickeln. Ist das Leben wirklich so? Soll man allem misstrauen? Wohin führt das? Schliesslich stellt sich heraus, dass der gefürchtete Besucher (Der Besuch) eine Entlastung bezüglich des albtraumhaften Erlebens von damals bringt und Nilis innere Reserviertheit Nati gegenüber unbegründet war. Doch es ist zu spät, die Saat des Vorbehalts ist aufgegangen und hat seine zerstörerische Arbeit bereits getan. Es sei denn, Nili reisst noch einmal alles herum: sie bietet Nati eine Nacht des Verzeihens an.

Fazit: Hila Blums Debütroman ist eine sich im Zeitlupentempo entfaltende Erzählung von Zerrissenheit, Vorbehalt und Schuld, für die man sicherlich einen langen Atem aufbringen muss. Die vielen Bonmots im Text und das versöhnliche Ende mit offenem Schluß entschädigen dafür.

Kategorie: gehobene Literatur, Berlin Verlag, 2014