Rezension

Porträt einer Ehe und noch so viel mehr

Wellness -

Wellness
von Nathan Hill

Bewertet mit 5 Sternen

          In diesem mehr als 700 seitenlangen Roman lernen sich Elizabeth und Jack als junge Studenten in Chicago Anfang der 1990er Jahre kennen. Der Leser begleitet das Paar sodann auf seinem Lebensweg bis in die 2010er Jahre.

Die beiden heiraten, werden Eltern, fassen beruflich Fuß, wie das Leben eben so spielt. "Kommst Du", fragt Jack im ersten Kapitel des Romans Elizabeth nach dem Auftritt einer angesagten Szeneband in einer heruntergekommenen Künstlerbar in Chicago. Und sie folgt ihm. Der Leser wird Zeuge einer hoch romantischen Begegnung zweier Seelen, die sich gefunden haben.

Oder ? Mitnichten, schon das zweite Kapitel, Jahre später, trägt den Titel "getrennte Schlafzimmer". Beim Leser stellt sich Ernüchterung ein. Gespannt verfolgt man den Werdegang wie auch die familiären Vorgeschichten der Protagonisten, die in eingestreuten Rückblenden entblättert werden.  Jack, Sohn eines Farmers aus den Flint Hills in Kansas; Elizabeth, Tochter steinreicher Eltern, die ihr Vermögen über Generationen durch ausbeuterische Geschäfte und legale Täuschungsmanöver angehäuft und erhalten haben.

Beide haben traumatische Kindheitserlebnisse, Jack durch eine kaltherzige Mutter; Elizabeth durch einen cholerischen Vater; beides herzzerreißend beschrieben und zu lesen. Jack und Elizabeth brechen den Kontakt zu den Eltern ab und gehen zum Studium nach Chicago.  

Doch dieser Roman kreist um so viel mehr als nur um die Geschichte von Elizabeth und Jack. So spiegeln die beschriebenen Nebenfiguren die Befindlichkeiten und die Grundstimmung der Zeit, in der dieser Roman spielt, genial wider. Alle diese Figuren haben mir sehr gut gefallen: der stets die Risiken seiner Projekte im Blick habende langjährige Freund und Geschäftsmann Benjamin; die scheinbar so perfekt und achtsame Freundin Bradie und, besonders eindrucksvoll, das polyamouröse Paar Kate und Kyle. All das ist so süffig zu lesen und wird so pointiert und mit einer Prise Humor beschrieben, dass es ein großes Lesevergnügen ist.

Auch an Symbolik mangelt es nicht: das Feuer, insbesondere die großen durch die Farmer gelegten Präriefeuer in den Flint Hills, die zur Erneuerung der als Viehfutter dienenden Gräser dienen, wie das Feuer stets auch Vernichtung und Neuanfang in sich birgt; die Fledermäuse, die sich zu Hunderten unausrottbar in dem Familienanwesen der reichen Eltern Elizabeths eingenistet haben, ihren giftigen, zerstörerischen Kot hinterlassend wie ein Zeichen für die vergifteten Familienbeziehungen; das Unternehmen mit Namen Wellness, Arbeitsplatz von Elizabeth, das zunächst wissenschaftliche Studien zur Wirkungsweise von Placebos betreibt und schließlich Placebos verkauft, vordergründig um Menschen zu helfen, letztendlich aber auf einer Täuschung beruht, denn die Kunden ahnen nicht, dass sie Placebos verabreicht bekommen.

Auch das Internet, facebook, tictoc und die Wirkungsweise von Algorithmen mit dem Ziel, Meinungsbildungen zu steuern und damit den Marktwert der "hilfsbedürftigen Nutzer" zu ermitteln und so zu kommerzialisieren, wird thematisiert. So verfällt der über 70jährige Vater von Jack den abstrusen Verschwörungstheorien, die auf facebook kursieren.

Worum geht es also in diesem Roman ? Es geht um die Welt, in der wir leben. Darum, wie Menschen versuchen, sich in ihr zurecht zu finden; darum, wie sie zusammenfinden trotz aller Widrigkeiten und familiärer Prägungen. Es geht um Hoffnung und Glauben, um die Suche nach Halt in unsicheren Zeiten und um die vergebliche Suche nach Gewissheit.

Denn, wie der ehemalige Leiter der Wellness Praxis, Dr. Sanborne, feststellt: "Gewissheit war nur die Geschichte, die sich der Verstand erdenkt, um sich gegen der Schmerz des Lebens zu verteidigen. Was quasi per Definition bedeutete, dass Gewissheit ein Weg war, dem Leben auszuweichen. Man konnte sich für die Gewissheit entscheiden, oder man konnte sich entscheiden, lebendig zu sein ".

Besonders gefallen hat mir der Titel des letzten Kapitels des Romans: "Die menschliche Seele streift draußen umher wie eine Maus". Schließlich endet der Roman mit einer derart schönen Beschreibung, wie ich sie selten in einem Roman gelesen habe, ganz wunderbar ! Leider kann ich das nicht wiedergeben ohne zu spoilern. Also gebe ich ich eine unbedingte Leseempfehlung ab und würde gerne noch mehr als die möglichen 5 Sterne vergeben.

Nathan Hill ist ein famoser Geschichtenerzähler. Großes Bravo !