Technologie vs. Demokratie
Bewertet mit 4 Sternen
Siv ist IT-Experte und arbeitet für einen privaten Nachrichtendienst, der eine raffinierte Spyware entwickelt hat. Sein Spezialgebiet ist das Auffinden von Sicherheitslücken in IT-Systemen; er erledigt zuverlässig schwierigste Aufträge. Seine emotionale Intelligenz ist jedoch unterentwickelt: Siv ist ein einsamer junger Mann, dessen Selbstwertgefühl allein auf seinem fachlichen Können gründet. Aufgrund seiner Defizite fällt es ihm schwer, Menschen einzuschätzen und ist infolge leicht manipulierbar. In seiner Familie wird er finanziell ausgenutzt, aber nicht geliebt. Einzig in der Firma ist er geachtet - und in seinen Hacker Communities sogar so etwas wie eine Legende.
Die Story wird von Siv aus der Ich-Perspektive erzählt, in einer sehr einfachen Sprache, die zu dem naiven, weltfremden Protagonisten passt. Es gibt wenig Dialoge, dafür viel indirekte Rede, die trotz der Ich-Form Distanz zum Erzähler schafft.
Bald gibt es Hinweise darauf, dass Sivs Arbeitgeber wenig Skrupel hat, auch dubiose Aufträge zu akzeptieren. Ein Einsatz in einer Balkandiktatur läuft komplett aus dem Ruder, und offenbar gibt es auch in Israel selbst Menschen, die zum Ziel der Firmenaktivitäten werden. Aber Siv schiebt alle Verantwortung von sich und genießt die Anerkennung, die ihm sein Job verschafft. „Ich […] bin nur eine kleine Figur in einem großen Spiel, dessen Regeln andere bestimmt haben. Mich interessiert nicht, wer gewinnt und wer verliert. Ich tue nur meine brillante Arbeit.“ Mittlerweile ist er außerdem der Versuchung erlegen, die Spyware für private Zwecke zu missbrauchen. Er versucht, mit ihrer Hilfe seine drogensüchtige Schwester vor ihrem Peiniger zu retten. Sukzessive findet er immer mehr Gefallen an seiner Rolle als Jäger der Bösen und Retter der Guten. Bis sein alter Nachbar, ein Naturschutz-Aktivist, zum Ziel der ihm nur zu bekannten Algorithmen wird. Siv entschließt sich zu spät, einzugreifen – und aus dem Jäger wird ein Gejagter.
Es ist schnell klar, dass der Romantitel „Schwachstellen“ sich nicht auf die Lücken der IT-Systeme bezieht, sondern auf die, die sie vermarkten. Sarids Psychogramm eines labilen Nerds zeigt uns die Demokratie und Rechtsstaat zersetzende Macht der neuen Technologien, deren Anwendung ohne hochspezifische Kenntnisse nicht kontrolliert werden kann. Es zeigt, dass diese Technologien immer nur so moralisch sind wie die Charakterstärke oder Motive ihrer Operatoren. Eine besonders perfide Figur hat Sarid sich mit der Ex-Richterin ausgedacht, die vordergründig dafür sorgen soll, dass keine Gesetze übertreten werden, de facto aber sicherstellt, dass die Firma nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Zwar kann ich nicht beurteilen, ob heutige Systeme tatsächlich so leistungsfähig sind wie das im Roman beschriebene, aber fest steht: Geheimnisse waren gestern. Das wissen wir, vergessen es aber allzu leicht. Wir wissen auch, dass unsere Justiz machtlos ist gegenüber real life Technologie-Milliardären wie Bezos, Musk, Zuckerberg. „Schwachstellen“ frischt unser Gedächtnis auf.
Dass sein Roman kurz vor einem Angriff auf Israel veröffentlicht werden würde, konnte Sarid nicht ahnen. Auch nicht, dass der ahnungslose Mossad offenbar Sivs Spyware gut hätte brauchen können bzw. effizienter hätte anwenden müssen. In der Ausnahmesituation eines Krieges gibt es neue Gründe für den Einsatz von Überwachungstechnologien. Krieg an sich ist anti-demokratisch. Insofern hat der Roman nun eine Aktualität, die ihm zusätzliches Momentum verleiht.
Fazit: Sarids neuer Roman reicht zwar an die Wucht von „Monster“ oder „Siegerin“ nicht heran, vielleicht weil ihm ein Stückweit sprachliche Raffinesse und emotionale Tiefe fehlt. Dennoch ist er bis zum düsteren Ende flüssig und spannend zu lesen.