Systemausfall
Bewertet mit 3 Sternen
Vor dem aktuellen politischen Hintergrund in Nahost fällt es gar nicht leicht zum Roman des israelischen Autors Yishai Sarid eine Rezension zu verfassen. Denn seine Hauptfigur arbeitet als IT-Experte für einen global führenden Nachrichtendienst, der ihn direkt nach dem Wehrdienst anwirbt. Nun installiert Siv auf der ganzen Welt ein fragwürdiges IT-System, mit dem sich die Smartphones der Menschen quasi per Knopfdruck ausspionieren lassen. Fragen stellt sich Siv dazu keine, vielmehr vermag er der Verführung kaum zu widerstehen, das System für persönliche Anfragen zu missbrauchen und tritt damit eine Entwicklung los, der er nicht gewachsen scheint.
Sarids Hauptfigur Siv ist ziemlich schlau und ein begnadeter Hacker. In Sachen Sozialkompetenz ist er allerdings auf dem Grundschulniveau stehengeblieben. Das hat familiäre Ursachen und ich würde gern die Eltern zur Verantwortung ziehen, aber in Sivs Umfeld scheint das wohl niemandem aufgefallen zu sein. Die Einsamkeit, die ihn umgibt, strahlt aus allen Poren und scheint unbewusst von den Menschen, denen er begegnet, wahrgenommen zu werden. Siv benimmt sich in der Interaktion mit anderen Menschen nicht gewöhnlich, oft kann er Situationen nicht richtig lesen und hat zudem ein sehr unangenehmes, objektivierendes Verhältnis zu Frauen entwickelt. Der Autor setzt seine Figur nun in eine Firma, die ihr äußerst fragwürdiges Nachrichtensystem vor allem an Autokraten und Diktatoren verkauft, um Opposition und Widersacher zu überwachen und auszuschalten. Siv verschließt davor seine Augen und setzt sich absolut gar nicht mit der möglichen moralischen, ethischen Problematik auseinander. Bei einem Auslandseinsatz in einem europäischen Land missinterpretiert er sämtliche Vorkommnisse in nahezu absurder Art und Weise.
Yishai Sarid zeichnet hier eine Figur, die exemplarisch für vieles steht, was in unserer Gesellschaft schiefläuft, als Ergebnis einer Verkettung vieler unglücklicher Umstände und struktureller Missstände. Eltern, die ihre Fürsorgepflicht verfehlen und in der Erziehung keine Verantwortung übernehmen; Männer, die sich an kleinen Mädchen vergehen; Drogenmissbrauch, Machtmissbrauch, Beugung des Rechtssystem zugunsten des kapitalistischen Systems, Erpressung, Konsum, Misogynie und und und. Es ist ein schmerzhafter Roman, denn so abenteuerlich und fiktiv die Handlung auch auf den ersten Blick klingt, es stellt sich beim Lesen das ungute Gefühl ein, dass hier die Fiktion gar nicht so weit weg von der Realität ist. Und diese Vorstellung macht mir richtig starke Bauchschmerzen.